Karlina und Lena

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Vor Schreck biss Lena so fest in ihren Finger, dass er zu bluten begann. Entsetzt schrie sie auf und rutschte auf dem Hosenboden panisch nach hinten, bis sie an die kalte Mauer stieß.
Bebend und mit angezogenen Knien kauerte sie davor und versuchte so gut es ging ihre blutende Wunde zu verstecken. Fasziniert schaute Karlina sie an.

„Bist du ein Mensch?"   

Mit ausgestreckten Armen und einem seltsamen Glitzern in den Augen kam sie langsam auf Lena zu.

„Und ist das da echtes Blut? Hmmh, ich habe noch nie Menschenblut gekostet."
  
Lena begann zu stammeln: „Ich ... ich ... ääh ... also ... bitte nicht ... warte, vielleicht könnte ich ... ich meine ...!" Karlina war fast bei ihr angelangt, doch jetzt hielt sie staunend inne.

„Was könntest du? Stotterst du immer so? Komm näher und lass dich von mir beißen!"
  

Was sie dann tat, konnte Lena sich im Nachhinein selbst nicht erklären. Vielleicht hatte sich einfach nur zum richtigen Zeitpunkt ihr Überlebensinstinkt gemeldet? Jedenfalls rappelte sie sich hoch, stellte sich fest auf beide Beine und setzte einen verärgerten Gesichtsausdruck auf. „Hallo? Spricht man so mit einem Gast? Wer hat dir denn beigebracht so zu reden? Etwa dieser schräge Graf, oder was? Heutzutage macht man das anders. Da ... da bietet der Gastgeber seinem Gast erst mal was zu trinken an, bevor ... bevor er ihn austrinkt! Das ist echt uncool, was du hier bringst, weißt du das?!" Lena atmete schwer, ihr Puls raste.

Karlina erstarrte in der Bewegung, ließ ihre Arme sinken und schaute Lena mit großen Augen an. Sie schienen, als würde die Neugierde ihre Begierde übermannen.

„Uncool? Was bedeutet das? Hat das was mit einer Kuh zu tun?" Das Mädchen begann zu lachen. „Und was sagtest du gerade? Ihr bietet euren Gästen erst etwas zu trinken an - und anschließend trinkt ihr sie doch aus?" Karlina prustete los und hielt sich den Bauch vor Lachen. Auch Lena musste über ihren unfreiwilligen Witz schmunzeln.
  
Mit belustigtem Blick trat Karlina einen Schritt zurück und tat so, als öffnete sie eine unsichtbare Tür. Dann räusperte sie sich theatralisch und streckte Lena ihre bleiche Hand entgegen. Mit gespielter Höflichkeit sprach sie: „Ähem, guten Abend gnädigste, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Karlina von Rottstein. Hier ist etwas zu trinken - und jetzt her mit Ihrem Hals, ich möchte Sie austrinken!"
  
Nun konnte auch Lena nicht mehr an sich halten. Die beiden Mädchen lachten um die Wette, bis der Staub von den Bilderrahmen rieselte. Dabei geschah es, dass Lenas verwundeter Finger Karlinas Hand streifte und etwas von ihrem Blut daran haften blieb.
  
Die Nichte des Grafen hielt inne und betrachtete den Blutfleck staunend. Dann führte sie ihre Hand zur Nase.

„Hmmh, das riecht echt gut!", sagte sie genussvoll. Als Karlina das Blut auch noch von ihrer Hand schleckte, wurde Lena schlagartig wieder bewusst, in welcher Not sie sich befand: Vor ihr stand eine junge Vampirin, der sie offensichtlich Appetit auf einen leckeren Drink gemacht hatte, und irgendwo in der Burg trieb sich dieser verrückte Graf herum, der jeden Moment wieder auftauchen konnte.

Wieder ergriff sie Panik und verzweifelt schaute sie sich um. Nur ein paar Schritte entfernt sah sie plötzlich die weiße Ratte die Wand entlang huschen. Sie hatte einen der riesenhaften Wandteppiche erreicht und hielt dort schnüffelnd inne. Lena schaute zu Karlina. In ihrem Blick war jetzt wieder dieses Glitzern zu erkennen.
  
Und dann ertönte die tiefe Stimme des Grafen: „Hast du gerade so laut gelacht, meine Liebe? Es klang, als wäre noch jemand bei dir, aber ..." Mit einem Tablett, auf dem zwei silberne Kelche standen, betrat Karl von Rottstein die Eingangshalle und verstummte.

In seinen Augen erschien dasselbe Glitzern wie bei Karlina. Er setzte das Tablett ab, ohne Lena aus den Augen zu lassen: „Also doch ..."
  
Lenas Herz setzte einen Schlag aus. Panikartig schaute sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um.
Irgendwo musste es doch... aus den Augenwinkeln nahm sie wieder die kleine Ratte war, die wenige Meter entfernt vor dem Wandteppich auf den Hinterbeinen stand und Lena mit ihren winzigen Äuglein fixierte. Lena glaubte zu träumen. Konnte das möglich sein? Es sah tatsächlich so aus, als würde die aufgeregt quiekende Ratte mit ihren zierlichen Pfötchen Lena zuwinken.

Dabei bewegte sich das Näschen immer wieder zu dem Wandteppich hin, hinter dem es leise zu klappern schien. Doch was immer die kleine Ratte Lena mitteilen wollte, es war zu spät! Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und Lena drehte sich um.

Karlina war leise an sie herangetreten und hielt sie fest am Arm. In ihren Augen erkannte Lena außer diesem Glitzern jetzt noch einen anderen Ausdruck: War es Traurigkeit? Oder doch nur ein Anflug von Mitleid?
  
„Gut gemacht, mein Kind. Halt sie fest, heute gibt es endlich etwas Besseres als das verfluchte Blut dieses alten Federviehs. Heute werden wir M e n s c h e n b l u t  trinken!"

Auf seinen Stock gestützt setzte der Graf sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit in Bewegung. Nur noch wenige Schritte und er würde ...
  
Lena blickte noch einmal zu der kleinen Ratte. Wäre sie nicht in dieser ausweglosen Lage gewesen, sie hätte über das Bild, das sich ihr bot, lachen müssen: Etliche weitere Ratten hatten sich zusammen mit Lenas kleinem Freund in den unteren Saum des Wandteppichs verbissen und schwangen diesen in einer gemeinsamen Bewegung hin und her. Dabei strampelten sie wie verrückt mit ihren kleinen Füßen. Und dann sah Lena, was sich hinter dem schweren Wandteppich verbarg: Es war nicht etwa ein Bild oder ein Fenster, nein, es war eine dunkle Öffnung, die von einem steinernen Rahmen eingefasst war: Ein Kamin! Wollte die Ratte sie in den Kamin locken? Und wie konnte ihr das weiterhelfen? Sollte sie durch den engen Schacht nach oben krabbeln? Das war doch unmöglich!
  
In ihrer brenzligen Lage sah Lena jedoch keine andere Möglichkeit. Jeden Moment würde der Graf sie packen! Lena war verzweifelt. Da eröffnete sich ihr eine winzige Fluchtmöglichkeit und sie wurde von diesem Vampirmädchen festgehalten.
  
Plötzlich fiel ihr ein, was Karlina zu ihrem Onkel gesagt hatte - und das war jetzt ihr letzter Trumpf. „Karlina!", sagte sie eindringlich. „Ich weiß, dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als eine Freundin. Und soll ich dir was sagen?" Lena zögerte kurz. „Ich auch! Und ich weiß, dass wir zwei richtig gute Freundinnen werden könnten! Karlina, bitte ...!"
  
Lenas Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, und das im allerletzten Moment. Gerade wollte der Graf zugreifen, da erlosch das Glitzern in Karlinas Augen und ihr Griff lockerte sich gerade so viel, dass Lena sich mit einer schnellen Bewegung befreien konnte.

Ohne zu zögern drehte sie sich um und rannte die wenigen Meter zu dem Wandteppich, an dem immer noch die Ratten hingen.
  
Hektisch schob Lena den Teppich beiseite, blickte in den Kamin und erkannte den Grund für das Klappern, das sie zuvor gehört hatte: Der in den Kaminboden eingelassene gusseiserne Rost war zur Seite gezogen worden. Darunter lag eine dunkle, quadratische Öffnung – der Kaminschacht!

So schnell es ging krabbelte Lena in den Kamin hinein, drehte sich auf engstem Raum um ihre eigene Achse und ließ sich mit den Füßen voran in das enge Loch hinab gleiten.

Doch bevor sie ganz darin verschwinden konnte, bekam der Graf ihre Jacke zu fassen. Verzweifelt wand sich Lena aus der Jacke heraus, zog sich ganz in das Loch hinein und hielt sich nur noch mit den Fingern am oberen Rand fest. Mit den Füßen strampelnd suchte sie nach festem Boden, trat aber nur ins Leere.
  
Wie tief mochte der Schacht sein? Ihre Füße berührten beim  Herumrudern die Schachtwand und lösten kleine Steine, die tief unter ihr aufschlugen. Plötzlich spürte Lena dünne, knochige Finger, die nach ihren Händen grapschten.
  
Sollte sie springen? Es gab keine andere Möglichkeit. Sie schloss die Augen und wollte sie sich gerade fallen lassen, da fanden ihre Füße unvermittelt Halt in einer Wandnische. Ihre Zehenspitzen standen auf einem winzigen Vorsprung.

Schnell ließ Lena eine Hand los, griff an die Wand oberhalb ihrer Füße und ertastete ... nichts! War es möglich, dass sich an der Stelle eine Öffnung in der Schachtwand befand?

Und konnte sie dort hinein gelangen? Immerhin  war es eine Chance. Oben umklammerten die kalten Hände des Grafen ihre Finger, es war ein grauenerregendes Gefühl. Sie musste sich entscheiden. Mit den Fingern der anderen Hand fand sie die obere Kante der Öffnung.

   Jetzt!
  
Lena ließ sich von der Kante gleiten, und sofort riss ihr Gewicht sie nach unten. Dem Grafen entglitten ihre Finger.

Im Fallen versuchte sie, sich am Rand der Öffnung festzuhalten, um sich in die Nische hineinzuziehen. Die Schachtwand jedoch war wie das ganze Schloss alt und brüchig. An einer stabilen Steinwand hätte sie es vielleicht geschafft. Hier aber brach der Rand ab. Lenas Finger verloren den Halt und im selben Moment auch ihre Füße und sie stürzte ins Bodenlose.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt