Zurück in der Dachkammer

2 2 0
                                    


Mit klopfendem Herzen eilte Lena die steinerne Wendeltreppe hinauf.

Beim Laufen überdachte sie die Geschehnisse der Nacht: Die Flucht vor dem blutrünstigen Grafen und die Freundschaft mit Karlina, die ihr bereits zweimal das Leben gerettet hatte.

Und schließlich das Versteck Sir Rigoberts und der Fund seines Tagebuchs.

Sollte jetzt auch noch die zweite Kartenhälfte auftauchen, könnte Lena sich selbst und ihren beiden seltsamen Freunden, dem Professor und seinem Assistenten, den Weg in die Freiheit erhandeln.
  
Doch konnte ihr Plan überhaupt funktionieren?

Es gab so viel Unvorhersehbares: Würde sie die zweite Kartenhälfte finden? Würde Karlina den Tagebuchtext zu Ende lesen können? Konnten sie den Grafen anschließend überlisten? Und was hatte es mit der Macht des Aquila auf sich, die so außerordentlich wichtig zu sein schien?
  
Lena staunte über sich selbst.
Bisher hatte sie sich für nichts besonders anstrengen müssen.

Zu Hause bekam sie, was sie brauchte, und die Schule schaffte sie mühelos.

Und nun war sie plötzlich in der ungewohnten Situation, um etwas kämpfen zu müssen.

Nein, nicht um irgendetwas, es ging um ihr Leben! Wie wichtig es war, gerade jetzt Freunde an ihrer Seite zu haben, erlebte sie nur zu deutlich.
  
Lena erreichte den Treppenabsatz, von dem aus die Knoblauchpflanzen ihr den Weg in die Dachkammer versperrten.

Sie machte sich an die Arbeit und kämpfte sich mit aller Kraft durch das dichte Gebüsch. Den bestialischen Gestank ignorierend trat und schob sie, und fiel schließlich durch die letzten Büsche in die Kammer hinein.
  
Auf dem Boden vor ihr lag die Türklinke. Sie ließ sich auf den Boden sinken und hebelte damit die Diele nach oben.

Die zweite Kartenhälfte. Alles würde dann so viel leichter werden!

Der Graf würde eher bereit sein zu verhandeln. Und ihre Freiheit und die ihrer Freunde um einiges greifbarer.
  
Als Lena in den Hohlraum hineingriff, verschwand ihr rechter Arm bis zum Ellenbogen. Vorsichtig tastete sie sich voran.

Schließlich spürte sie die Ledertasche an ihren Fingerspitzen. Sie zog sie heraus und führte ihre Hand erneut in den Hohlraum hinein.

Immer weiter arbeiteten sich ihre Finger vorwärts, sie bewegte ihre Fingerspitzen nach links und rechts, befühlte auch die Oberseite des Hohlraums und tastete in kleinste Ritzen hinein.
  
„Au!", schrie sie plötzlich. Ein stechender Schmerz hatte ihren Zeigefinger durchzuckt. Sie riss den Arm aus dem Hohlraum und besah sich ihre Hand.

Aus einer Schnittwunde an der Fingerkuppe rann Blut.

Vorsichtig zog sie eine kleine, blau gefärbte Glasscherbe aus der Wunde. Ein Teil des zerbrochenen Tintenglases von Sir Rigobert?

Das würde erklären, weshalb er die letzten Tagebuchzeilen mit seinem eigenen Blut hatte schreiben müssen.
  
Suchend schaute sich Lena in der Kammer um und fand auf einem Haufen mit Gerümpel einen alten Wolllappen und einen hölzernen Gehstock. Sie riss ein Stück von dem Lappen ab und schlug es um den verletzten Finger.

Zum Fixieren benutzte sie das rosafarbene Lederband, mit dem der Lederbeutel und das darin befindliche Tagebuch zugeschnürt waren.

Anschließend stocherte sie mit dem Gehstock noch einige Male in dem Hohlraum herum und gab es schließlich auf.

Nach einem flüchtigen Blick durch die Dachkammer kam sie zu dem Schluss, dass hier nichts mehr zu finden war.
  
Als Lena die Ledertasche gerade in den Bund ihrer Hose stecken wollte, kam ihr ein spontaner Gedanke.

Sie öffnete die Tasche, untersuchte sie eingehend, drehte und wendete sie, befühlte sie überall und wurde schließlich fündig...

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt