Ratten sind äußerst widerstandsfähige Tiere.Sie passen sich unterschiedlichsten Umständen und Veränderungen ihres Lebensraumes an und existieren daher schon sehr lange auf der Erde.
Ansonsten führen sie ein Leben wie viele andere Tiere: Sie werden geboren, sie fressen und vermehren sich und irgendwann sterben sie. Das jedoch, was der schwarzen Ratte, die sich in diesem Augenblick noch in der Zigarrenkiste befand, in ihrem Leben wiederfahren war, war für ihre Spezies mehr als untypisch.
Aber diese Ratte lebte ja auch in einem sehr seltsamen Schloss, mit seinen ebenso seltsamen Bewohnern.
Einem dieser Bewohner musste sie dringend etwas mitteilen.Daher nagte sie schnell und ausdauernd an den dünnen Sperrholzwänden ihres kleinen Gefängnisses. Mit aller Kraft zwängte sie sich in das Loch hinein, das sie schon herausgebissen hatte.
Sie drückte und mühte sich nach Leibeskräften, ihren dicken, struppigen Körper durch die Öffnung zu zwingen.
Und dann hatte sie es geschafft, sie war frei! Ihr Blick richtete sich auf eine alte Fußleiste in der Ecke der Bibliothek. Mit flinken Schritten sprang sie dorthin, drückte die morsche Leiste mit ihrer Schnauze nach oben und verschwand dahinter.
Nun befand sie sich in den unsichtbaren Gängen des Schlosses, die nur Tieren ihrer Größe vorbehalten waren:Schmale Wege und Tunnel, die von Generationen von Ratten und Mäusen gegraben worden waren, außerdem Abflussrohre und viele morsche Holzvertäfelungen.
Die Ratte schoss mit großer Geschwindigkeit durch die dunklen Gänge und Rohre.Manchmal musste sie sich aus dem Schutz dieser Wege hinausbegeben, um Räume und Gänge der Schlossbewohner zu durchqueren. Und dabei wurde sie nur durch Zufall von Karlina gesehen, die genau in diesem Moment mit dem Professor durch die Gänge des Schlosses eilte.
Karlina hielt inne, schaute auf die Stelle, an der die Ratte wieder in der Wand verschwunden war, konnte sich aber keinen Reim aus dieser Begegnung machen.
„Fräulein Karlina, bitte beeilen Sie sich!" Der Professor sah das Grübeln in ihrem Gesicht. „Ist irgendetwas, junges Fräulein? Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen."
Wäre sich Karlina in diesem Moment über die Bedeutung ihrer Beobachtung im Klaren gewesen, so hätte sie sicher anders reagiert.
„Es ist nichts, Herr Professor. Beeilen wir uns. Sie haben recht, die Zeit ist knapp bemessen!"
Mit diesen Worten eilten die beiden gemeinsam den Gang weiter in Richtung Bibliothek.
Die Ratte hatte inzwischen fast die Eingangshalle erreicht. Im ersten Stock schlüpfte sie in ein Abflussrohr und rutschte darin hinab bis sie im Erdgeschoss durch einen Riss im Rohr hinter die Holzvertäfelung huschte, an der die leeren Gemälde des Grafen und seiner Nichte hingen.
Vor diesen Gemälden rutschte der alte Graf unruhig in seinem Sessel hin und her und fluchte vor sich hin. Die Ratte krabbelte durch ein Loch in die Eingangshalle.Sie war fast am Ziel.
Mühelos und fast beschwingt trugen ihre kleinen Füßchen die dicke schwarze Ratte die letzte kurze Strecke zum Sessel des Grafen. Sie wollte gerade auf die Armlehne springen, da schoss plötzlich von der Seite etwas heran, sprang ebenfalls auf den Sessel und stürzte sich auf sie.
"Was, zum Teufel ...?", rief der Graf. Er konnte sich keinen Reim daraus machen, dass seine Hausratte von einer kleineren, wild kämpfenden Ratte angegriffen wurde.Im hellen Fell hatte sie einen auffallend dunklen Fleck zwischen den Augen ...
Ringend und ineinander verbissen kullerten die beiden Ratten von der Sessellehne herunter und fielen zu Boden.Immer wieder griffen beide Tiere an und versuchten erfolglos den entscheidenden Biss in den Hals des jeweils anderen zu setzen. Schließlich gewann die schwarze Ratte die Oberhand, die kleine weiße Ratte schien am Ende ihrer Kräfte.
Dann geschah etwas Unerwartetes. Der große Wandteppich, unter dem sie gekämpft hatten, fiel plötzlich auf die zwei hinunter. Dahinter kam der steinerne Kamin zum Vorschein. Mehrere kleine Ratten fielen mit dem Teppich hinab und flohen wild piepsend in alle Himmelsrichtungen.Offensichtlich waren sie für das Herabfallen des Teppichs verantwortlich.
"Haltet ein, sofort!" Der Graf hob seinen Ring, um dem seltsamen Spuk ein Ende zu bereiten.
Die zwei kleinen Tierchen waren jedoch unter dem schweren Teppich verschwunden, durch den der Zauber des gräflichen Ringes nicht hindurch gelangte.
Mit Mühe konnte sich die weiße Ratte aus ihrer misslichen Lage befreien. So schnell es unter dem schweren Stoff möglich war krabbelte sie zum Ende des Teppichs, sah die rettende Kaminöffnung und sprang mit allerletzter Kraft hinein, dicht gefolgt von der schwarzen Ratte. Bevor der Graf einen weiteren Befehl aussprechen konnte, fielen beide Ratten den Schacht hinunter ...
Der Graf runzelte die Stirn. Was hatte dieser Kampf zu bedeuten? Er ahnte, dass seine Ratte ihm etwas hatte mitteilen wollen. Nur was?
Karl von Rottstein begann nervös vor seinem Gemälde auf und ab zu gehen.Irgendetwas lief gerade schief.
Er hatte jedoch keinen Anhaltspunkt, wo er einen Fehler gemacht haben sollte.
Seine beiden Diener waren instruiert und fliehen konnte das Mädchen nicht, dafür hatte er gesorgt. Den einzig möglichen Ausgang aus dem Schloss bewachte er.
Dennoch schien irgendetwas im Gange zu sein, von dem er nichts wusste - und das musste er ändern, sofort!Der Graf sah zu der steinernen Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, daneben erblickte er die Treppe, die in den Keller führte. Zum Schluss wanderte sein Blick zur großen Flügeltür, durch die es nach draußen ging. Er fasste einen Entschluss und machte sich mit eiligen Schritten auf den Weg.
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasía„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...