Auge in Auge - Part 1

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„Sprechen Sie weiter, Petit, was hatte sie in der Hand?!" Der Professor schloss die Augen. „Vorsichtig, Pierre", dachte er, „seien Sie bitte vorsichtig!"
  
Lena wagte kaum zu atmen. Sie zermarterte sich den Kopf darüber, wie Pierre ohne Ring - von dem Täuschungsmanöver des Professors konnte sie nichts wissen - derart dreist hatte lügen können und was er damit bezweckte.

„Nun ja", möglichst tonlos erzählte Pierre Petit weiter, „es sah aus wie ein zusammengefalteter Plan ... sicher bin ich mir aber nicht."
  
„Und weiter?", drängte Karl von Rottstein, „Wie konnte es passieren, dass das Mädchen dann ein weiteres Mal entkommen konnte?"
  
Der Graf hatte die vermeintliche Flucht Lenas offenbar bereits als Tatsache hingenommen. Ermutigt von seinem Erfolg erzählte Pierre weiter.
  
„Nun muss ich von einem bedauerlichen Fehler meinerseits berichten, Herr Graf. Wir hatten gerade die Eingangstür zur Bibliothek erreicht, als das Fräulein Lena plötzlich zögerte. Sie fragte uns, ob sie wirklich mit der Freiheit rechnen könne, worauf mir eine etwas unglückliche Bemerkung entfuhr."
  
Die Spannung in der Bibliothek war greifbar. Alle Beteiligten waren auf Pierres Worte konzentriert.
  
„Herr Graf, Sie müssen verzeihen", sagte Pierre, „das Fräulein Lena ist mir sehr sympathisch und ich wollte sie ein wenig erheitern. Also sagte ich, dass das wohl davon abhinge, wie erfolgreich sie ihren entzückenden, wohl durchbluteten Hals vor Ihrem durstigen Blick zu verbergen imstande sei ..."
  
Bei Pierres letzten Worten musste Lena grinsen. Karlina bedachte sie mit einem fragenden Blick, worauf Lena nur mit den Schultern zucken konnte.
  
„Und dann", erzählte Pierre weiter, „dann schaute sie uns mit weit aufgerissenen Augen an. Sie steckte ihre Hand in die Tasche und zog diesen länglichen Metallgegenstand heraus, der wie ein Schlüssel aussah. Bevor wir reagieren konnten, steckte sie das Ding ins Schloss der Tür, drehte ihn herum und zog ihn wieder heraus, um sich dann auf der Stelle umzudrehen und nach oben zu rennen."
  
Was nun folgte, war Pierres bisher brillantester Einfall:
  
„Der Professor rief mir zu, dem Mädchen zu folgen. Was sage ich, er schrie mich regelrecht an, sie nicht entkommen zu lassen, um Sie, das sagte er ganz deutlich, nicht zu enttäuschen, Herr Graf. Eigentlich müssten seine Worte durch das ganze Schloss zu hören gewesen sein. Nun, mit meinen inzwischen 169 Jahren konnte ich mit dem jungen Mädchen nicht Schritt halten und sie entkam. In dem Moment, als sie zur Tür hereinkamen, Herr Graf, kehrte ich soeben von der oberen Galerie zurück, bis zu der ich das Fräulein Lena verfolgt hatte. Es tut mir fürchterlich leid, ich werde selbstverständlich alles tun, um meinen Fehler wieder gut zu machen, Eure Grafschaft."
  
Der Graf fixierte Pierre. Es sah aus, als würde er dem armen Pierre ein weiteres Mal an den Hals gehen wollen, was mehr als sinnlos gewesen wäre. Dann fiel ihm der Schrei des Professors ein, den er bis in die Kellergewölbe herunter vernommen hatte. Die Geschichte des jungen Assistenten klang glaubhaft.
  
Er fragte sich, warum er überhaupt an der Glaubhaftigkeit seiner Diener zweifelte, zumal er durch seinen Ring die Macht über sie innezuhaben glaubte. Aber er musste sicher sein.

Urplötzlich richtete er seinen Blick zur Decke hinauf und im selben Moment handelte er.
  
„Folgen Sie mir, Petit, aber schnell!"
  
Der Graf warf seinen Umhang zurück, griff sich eine Fackel von der Wand und lief die Treppe zur oberen Galerie der Bibliothek hinauf.

Keuchend eilte Pierre ihm hinterher. Als er schwitzend den oberen Absatz erreicht hatte, stand der Graf mit entschlossener Miene direkt unter der Falltür und sah nach oben.
  
„Aufmachen, Petit!" Der Befehl des Vampirs kam kurz und unmissverständlich. War die ganze brillante Geschichte umsonst gewesen?

Nur knapp drei Meter oberhalb des Grafen versuchte Lena einen klaren Kopf zu behalten und sah zu ihrer Freundin hinüber. Karlina schien heftig unter der Enge ihres Verstecks zu leiden.
  
Zum wiederholten Mal fragte sich Lena was mit ihr los sei. Zum Glück hatten sich ihre Augen inzwischen so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie ihre genaue Lage auf dem Plan der Schlossgänge in Sir Rigoberts Tagebuch ausmachen konnte. Ihr Versteck war der Anfang eines Geheimganges, der in andere Teile des Schlosses führte.
  
Mit deutlichen Handzeichen bedeutete sie ihrer Freundin, sich weiter in den steinernen Gang zurückzuziehen. Langsam und unsicher bewegte sich Karlina nach hinten, während Lena sich mit ihrer freien Hand in die Hosentasche griff.

Sie zog die zwei vergammelten Knoblauchknollen heraus und zerrieb sie zu einem fürchterlich stinkenden Sud, den sie um die Luke herum verteilte. Anschließend krabbelte sie auf allen Vieren rückwärts zu Karlina, die mit geschlossenen Augen wie ohnmächtig zusammengesunken war und sich nicht rührte.
  
„Na klasse, Knoblauch wirkt tatsächlich", dachte Lena und schüttelte ihre Freundin. Karlina rührte sich nicht.
  
Und dann öffnete sich die Luke.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt