Zur selben Zeit saß Graf Karl von Rottstein in der Eingangshalle auf dem alten Sofa und dachte über diese außergewöhnliche Nacht nach.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte sich wieder ein Mensch in das Schloss verirrt.
Karlina meinte, dass er nur an einer schnellen Blutmahlzeit interessiert war. Aber das stimmte nicht. Bei dem Professor und seinem Assistenten hatte er damals zu schnell seinem Blutdurst nachgegeben. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal begehen.
Aus seiner Westentasche holte er ein zusammengefaltetes Stück Papier, entfaltete es und las den entscheidenden Satz:
„Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen."
Dieser Satz bereitete ihm das größte Unbehagen. Sollte die Karte ihm tatsächlich den Weg zu der ersehnten zweiten Kartenhälfte weisen, dann hatte das offensichtlich bei Vollmond zu geschehen – bei diesem Vollmond heute Nacht!, beschloss er, und blickte zu einem der alten Schlossfenster, durch das der Mond seine blassen Strahlen warf.
Und zwar mit der Hilfe des „Aquila".
Was aber war ein Aquila?
Bis jetzt hatte er es nicht herausfinden können. Sir Rigobert musste etwas darüber gewusst haben.Dieser dreimal verfluchte Vampirjäger! Der Graf erinnerte sich, wie er ihn eines Nachts in der Bibliothek überrascht hatte, in einer Hand die wertvolle Karte, die er dem Grafen einige Nächte zuvor entwendet hatte, in der anderen eine brennende Fackel.
Nur mit großer Mühe war es ihm gelungen, die Kontrolle über die Situation wiederzuerlangen.Den größten Fehler hatte er dann später begangen, als er den Fluchtweg Sir Rigoberts entdeckt, die Nerven verloren und ihn gebissen hatte, worauf der Vampirjäger verschwunden war. Und mit ihm alles, was er herausgefunden hatte. Es war zum Verzweifeln gewesen.
Irgendwo im Schloss musste sich Sir Rigobert einen Rückzugsort eingerichtet haben. Einen Ort, der offenbar nur Menschen zugänglich war, sonst hätte der Graf den Ort mit Hilfe seiner Nichte längst gefunden.
Nach dem Verschwinden von Sir Rigobert waren der Professor und sein trotteliger Assistent erschienen.Anstatt sie am Leben und nach Sir Rigoberts Versteck suchen zu lassen war der Graf in seinem Blutdurst abermals unüberlegt über seine Opfer hergefallen: Die Chance, das Versteck mit der Hilfe der beiden zu finden, war dahin.
Nun hatte das Schicksal wieder einen Menschen zu ihm geführt, und dieses Geschenk würde er nutzen und es niemals entwischen lassen!Dank seiner präzisen Anweisungen würden die beiden Halbvampire das Mädchen hierher locken.
Und er würde ihr wie damals Sir Rigobert die vermeintliche Freiheit versprechen - im Austausch gegen das, was sich im Versteck des Vampirjägers finden würde.
Seine Gedanken führten ihn weiter zu dem Adler im Traurigen Turm.Die Fledermäuse hatten ihn in der Nacht gefangen, in der Sir Rigobert verschwunden war.
Weshalb es zu dem Kampf mit den Fledermäusen gekommen war, hatte er nie herausgefunden. Immerhin stand seitdem wieder Blut auf dem Speiseplan. Adlerblut.
Wie der Graf es inzwischen hasste!
Nun, wenn alles Weitere wie geplant ablaufen würde, dann wäre es zumindest für diese Nacht vorbei mit der Geflügeldiät. Aber nicht nur das.Schon in dieser Nacht würde er mit Glück die zweite Kartenhälfte in seinen Händen halten!
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasi„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...