Ein steiler Weg

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Lena tastete sich durch die kalte Dunkelheit. Nur kurz führte der enge Gang geradeaus und stieg dann plötzlich steil nach oben.

Mit großer Mühe krallte sie sich an der feuchten Wand aus Erde fest, um nicht wieder nach unten zu rutschen.

Nach einigen Metern bemerkte sie, dass in kurzen Abständen kleine Nischen in die Erde gekratzt waren. In diese ‚Stufen' konnte sie die Füße hineinstellen und sich Stück für Stück nach oben drücken.

Ihre Angst war inzwischen einer wilden Entschlossenheit gewichen. Die Freundschaft zu Karlina hatte ihr neue Kraft verliehen.

Wie eine Bergsteigerin kletterte sie nach oben. Kurze Zeit später endete der senkrechte Schacht unvermittelt und mündete in einen breiteren, waagerecht in zwei Richtungen verlaufenden Gang. Hier ertastete sie Rillen und Furchen an der Wand.

Der Gang musste beim Bau des Schlosses entstanden sein!

Irgendwo hatte Lena gehört, dass Schlösser und Burgen oftmals Geheimgänge hatten, durch die sich die Burgherren im Falle einer drohenden Gefahr in Sicherheit bringen konnten.

Ihr Herz machte einen Sprung: Aus der einen Richtung nahm sie einen leichten Lichtschimmer war. Der Vollmond, der von draußen in den Gang schien? In der anderen Richtung war es stockdunkel.

Also weiter auf das Licht zu. Vielleicht kam jetzt eine Glückssträhne. Die Freundschaft mit Karlina, der Fluchtgang und jetzt der Weg in die Freiheit? Immer schneller kroch Lena auf das schwache Licht zu und ganz plötzlich griffen ihre Hände ins Leere!

Der Gang endete so abrupt, dass Lena beinahe in die Tiefe gestürzt wäre. Sie konnte gerade noch ihr Gleichgewicht halten, brachte ihre Hände zurück auf den Steinboden und blickte unter sich in einen schwarzen Abgrund.

Es genügte ein weiterer Blick nach oben, um Lena klarzumachen, woher das Licht kam. Zu ihrer Enttäuschung führte der Weg keineswegs in die Freiheit, sondern direkt in den senkrechten Kaminschacht, durch den sie erst kurz zuvor hinuntergestürzt war.

Am brüchigen Rand des Ganges, in dem sie jetzt kauerte, hatte sie sich dabei ohne Erfolg festzuhalten versucht.

Und was jetzt? Was, wenn der Graf diesen Fluchtweg kannte?

Sollte sie durch den Kamin in den Saal klettern und sich irgendwo verstecken? Nein, die Nacht war noch lang und die feinen Nasen der Vampire würden sie in ihrem Blutdurst sicher aufspüren. Wohin war der gebissene Sir Rigobert nur entkommen?

Der einzige Weg in die Freiheit musste durch den Schlot des Kamins auf das Dach führen und diesen Weg würde sie versuchen!

Sie zwängte sich in den Schacht hinein, die Wände boten keinerlei Halt. Mit ihren Händen stützte sie sich an der gegenüberliegenden Wand ab und setzte ihre Füße auf den Rand des Ganges und konzentrierte sich verzweifelt darauf, nicht den Halt zu verlieren und abzustürzen.

Vorsichtig bewegte sie sich aufwärts, stand schließlich schräg in dem Schacht und erreichte so knapp die Öffnung zum Kamin. Nur mit einem kräftigen Klimmzug würde sie es schaffen, sich in den Kamin hochzuziehen.

„Weiter, Lena!", flüsterte sie sich Mut zu. Sie sprang nach oben und hing jetzt nur noch an ihren Händen über dem Abgrund. Mit aller Kraft versuchte sie sich nach oben zu ziehen, aber die letzten Stunden hatten sie zu viel Kraft gekostet.

Hilflos hing sie in der nach Ruß stinkenden, engen Röhre und spürte, wie die Kraft sie verließ. Ihre Finger schmerzten unerträglich, gleich würde sie wieder fallen ...

Plötzlich hörte sie ein vertrautes Piepsen über ihrem Kopf. Sie schaute nach oben und sah zu ihrer Freude die kleine Schnauze der weißen Ratte und darüber ihre winzigen Äuglein.

Dann erschienen noch mehr Rattengesichter über dem Rand der Öffnung.

Wollten sie Lena warnen, dass der Graf sich dem Kamin näherte? Was sollte sie tun? Sich fallen lassen? Unvermittelt sprang eine Ratte über die Kante der Kaminöffnung und landete genau auf Lenas Schulter. Behände kletterte sie an ihrem Körper nach unten und sprang schließlich von ihrer Gürtelschnalle in die Wand des Schachtes.

Dort blieb sie komischerweise an der Wand hängen. Aus ihrer Position konnte Lena nur schwer nach unten schauen. Aber es sah tatsächlich so aus, als klebte die Ratte an der glatten Wand.

Dann sah Lena, dass sie sich irrte und das Tier in einer kleinen Wandvertiefung kauerte.

Lena schwang einen Fuß dorthin und stand etwas wackelig aber einigermaßen stabil in der Nische. Die Ratte kletterte auf ihren Schuh und von dort aus zurück auf Lenas Schulter.

Nun erkannte sie auch auf der anderen Seite etwas höher gelegen eine ähnliche Vertiefung. Dort hinein stellte Lena ihren anderen Fuß und nun konnte sie fast problemlos durch die Öffnung hindurch in den Kamin klettern.

Schnaufend kauerte sie dort und lugte vorsichtig durch den Spalt zwischen Wandteppich und Wand nach draußen.

Völlige Stille.

Mit einem dankbaren Blick wendete sich Lena an die Ratten.

„Schon wieder ihr. Wer seid ihr und was für ein Geheimnis steckt hinter euch? Das hängt nicht zufällig mit diesem creepy Schloss zusammen?" Sie blickte nach oben und zeigte mit der Hand in den Schacht über sich.

„Ich werde jetzt da hinauf klettern. Und ich hoffe, dort einen Weg nach draußen zu finden. Seid ihr einverstanden?"

Mit aufmerksamen Augen schauten die Ratten sie an, zeigten aber keine Reaktion.

„Keine Einwände, wie es scheint. Na dann los!", rief sie und machte sich an den Aufstieg in den Kamin.

Sie kam erstaunlich schnell voran, da sich auch hier gut ausgemeißelte Trittöffnungen in der Wand befanden. Meter für Meter kletterte sie nach oben.

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In der Zwischenzeit waren die beiden bemitleidenswerten Halbvampire auf dem Weg zum Traurigen Turm.

Als sie den Grafen verlassen hatten, war ihr Gang starr und ausdruckslos gewesen, ebenso der Blick in ihren Augen. Bei genauerem Hinsehen hätte man allerdings erkennen können, dass sich die rechte Hand des alten Professors nervös in seiner Westentasche bewegte. Ein Detail, das so gar nicht zu dem schlafwandlerischen Zustand der beiden Diener passte - aber der Graf war mit den Gedanken viel zu sehr bei seiner bevorstehenden Mahlzeit gewesen.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt