Balancieren

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Sterne! Nie zuvor hatte sich Lena so über den Anblick von Sternen gefreut, die sie plötzlich hoch oben über sich entdeckte.

Ihre Hände schmerzten von dem beschwerlichen Aufstieg, lange würde sie es hier drinnen nicht mehr aushalten. Nun aber sah sie über sich eine eckige Öffnung im Schornstein und dahinter den dunklen Nachthimmel.

Beflügelt von der Aussicht auf frische, klare Nachtluft beschleunigte sie ihren Aufstieg.

Schließlich schlossen sich ihre Finger um den Rand der Öffnung und sie zog sich mit einer letzten Kraftanstrengung aus dem Schornstein heraus, bis sie auf der gemauerten Umrandung saß und durchatmete.

Fröstelnd sah sie sich um und erkannte, in welch schwindelerregender Höhe sie sich befand. Die Schlossmauern reichten weit in die Tiefe, in der Lena schwach Rasenflächen, Bäume und Büsche ausmachen konnte.

Hier sollte es in die Freiheit gehen? Sie ließ ihren Blick in alle Richtungen wandern.

Schnell erkannte sie, dass Lena auf im Zentrum von vier zusammenlaufenden Dächern saß.

Sie streckten sich waagerecht in alle Himmelsrichtungen und hielten sich jeweils an einem Turmdach fest. Diese waren allesamt spitz und ragten wie vier riesenhafte Wächter in den Nachthimmel.

Am Ende eines Dachfirsts lag etwas.

Im schwachen Mondlicht sah es aus wie eine Schlange, doch das war wohl kaum möglich. Ein Kabel? Der Blitzableiter?

„Was soll's?", sagte Lena laut,
„Irgendwo muss dieser Rigobert ja langgeklettert sein. Los jetzt!"

Geschickt kletterte sie den Schornstein hinab und landete auf dem Dachfirst. Jetzt gab es nichts mehr, an dem sie sich festhalten konnte.

Der First war äußerst schmal und die Ziegel, aus denen er bestand, wirkten alt und morsch.

Nur nicht nach unten sehen, Lena, nicht da runter gucken!

Langsam und bedächtig machte sie sich auf den Weg hinüber zum anderen Ende des Daches. Manche Ziegel waren glitschig, und einmal knackste es verdächtig, sodass Lena stocksteif stehen blieb und mit klopfendem Herzen innehielt.

Doch schließlich erreichte Lena wohlbehalten und fröstelnd ihr Ziel. Es war ein altes Hanfseil, was vor ihr auf dem Dach lag.

Von Wind und Wetter grau und zerfleddert reichte es hinab bis zu einer Gaube, die sich links unterhalb von ihr an die Dachschräge schmiegte.

Das Seil war zwischen den Dachziegeln an einer rostigen Öse befestigt.

Vorsichtig setzte sie sich auf den First und nahm das alte Seil in die Hand. Es fühlte sich feucht und morsch an.

Um die Reißfestigkeit zu überprüfen, zog sie daran. Es hielt. Was aber geschah, wenn Lenas ganzes Gewicht an dem Seil hing?

Das Dach viel extrem steil ab. Wenn das Seil reißen würde, könnte sie sich nirgendwo festhalten und würde fast im freien Fall in die Tiefe stürzen.

Gab es eine andere Möglichkeit?

Zurück ins Schloss zu den durstigen Vampiren? Nein! Lieber ein kurzer, schneller Sturz in die Tiefe als langsam das Bewusstsein zu verlieren während eines schmerzhaften Bisses in die Hauptschlagader.

Auf dem Bauch liegend ließ sich Lena rückwärts langsam an dem Seil nach unten gleiten.

Es war zwar glitschig, doch in regelmäßigen Abständen waren Knoten darin, so dass sie den Halt nicht verlor. Fast die Hälfte des Weges hatte Lena bereits geschafft, als plötzlich etwas an ihrem Kopf vorbeiflatterte.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt