Lena und Karlina standen auf dem oberen Treppenabsatz im Traurigen Turm und konnten es nicht glauben. Es war eindeutig der alte Adler, der gesprochen hatte.Mit wachen Augen blickte er die zwei Freundinnen an.
Als er weiter sprach, hatte Lena das Gefühl, als würde seine tiefe Stimme nicht aus dem Schnabel kommen, sondern von irgendwo anders her.Vielleicht war es gar keine richtige Stimme, sondern eher ein Gedanke - irgendetwas, das auf anderem Wege in ihr Bewusstsein gelangte?
„Erschreckt nicht, Karlina und Lena. Ich bin ein alter Vogel, dessen Zeit längst abgelaufen ist und der vermutlich keiner Fliege mehr etwas antun könnte."
Dabei fixierte er Karlina, deren Mund vor Staunen weit offen stand. Lena hatte den Eindruck, als würden ihrer Freundin gleich die Vampirzähne aus dem Mund fallen.
„Ich... also, es tut mir so leid, wirklich, alles was wir Ihnen angetan haben, Herr ... äh ... Adler. Sehen Sie, mein Onkel, also ...", stammelte die junge Vampirin, wurde jedoch von der sanften Stimme des Adlers unterbrochen.
„Zerbrich dir darüber jetzt nicht den Kopf, Karlina. Seid versichert, dass ich auf eurer Seite stehe und euch helfen werde, soweit es in meiner Macht steht. Ich habe viel Zeit in diesem Turm, den ihr zu Recht den Traurigen Turm nennt, verbracht. In den Jahrzehnten meiner Gefangenschaft sind viele meiner Sinne verkümmert, doch einige haben sich im Gegensatz dazu verschärft. Und dazu gehört mein Gehör!
Ich weiß mehr über das, was ihr vorhabt, als ihr vermuten würdet. Hinzu kommt, dass ich vieles über das Schloss, Vampire und den Grafen und seine Eigenschaften weiß, wenngleich mir noch längst nicht alle Geheimnisse bekannt sind."Nun blickte er Lena tief in die Augen.
„Ihr müsst mir vertrauen wenn ich euch sage, dass euer Vorhaben gefährlich ist und der Erfolg auf Messers Schneide steht. Euch fehlt Wissen, ohne welches ihr es sehr schwer haben werdet. Doch da ihr Mut und Entschlossenheit zeigt und Euch mit den beiden Halbvampiren zusammengetan habt, ist von großer Wichtigkeit. Vor allem auf eure Freundschaft wird es ankommen, wenn ihr am Ende der Nacht als Gewinner aus diesem gefährlichen Spiel hervorgehen wollt.
Keiner von euch kann dieses Spiel für sich alleine gewinnen, habt ihr mich verstanden?"
Die beiden Mädchen sahen sich an und spürten bei diesen Worten die Kraft ihrer Freundschaft.Lenas Blick wanderte zurück zu dem Vogel.
„Wie meinen Sie das ... ähm ... Herr Adler? Sollen wir gemeinsam zum Grafen gehen und uns ihm entgegenstellen?"
„Das wird nicht möglich sein", antwortete der Adler. „Der Graf würde sofort wissen, dass etwas ähnlich Mächtiges wie sein Ring Karlina von seinem Befehl befreit hat. Du musst dieses Treffen zunächst allein durchstehen. Vorher jedoch wirst du noch etwas in der Dachkammer Sir Rigoberts erledigen, von dem euer Erfolg entscheidend abhängt."
„Aber ... ich weiß nicht, ob ich das schaffe", warf Lena ein. „Ich meine, mich alleine dem Grafen zu stellen. Er ist so mächtig, er hat diesen Ring und ..."
„Du wirst nur dem äußeren Anschein nach alleine sein", unterbrach sie der Adler, „vertraue mir. Und höre jetzt genau zu!"
Nachdem er erklärt hatte, was sie zu tun hatte, war Lena sprachlos. Karlina neben ihr blickte sie ratlos an.
Um das zu erledigen, was der Adler ihr aufgetragen hatte, musste Lena wieder über das Dach in die Kammer gelangen - der Weg vorbei an der Bibliothek war wegen des dort Wache stehenden Pierre zu riskant.
„Eines würde ich gerne noch wissen", sagte Lena. „Warum bist du nicht weggeflogen, als Karlina dich befreit hat? Du hättest die Freiheit mehr verdient als jeder andere von uns!"
Der Adler sah Lena abermals in die Augen. Es schien, als würde er lächeln.
„Ist das denn nicht offensichtlich, junge Dame? Wie hätte ich euch beiden dann all dies erzählen können? Es steht heute Nacht noch weit mehr auf dem Spiel, als ich euch zu diesem Zeitpunkt erzählen kann."
Neugierig betrachtete Lena den Adler. Irgendetwas verstand sie immer noch nicht, aber das musste warten. Dann wendete sie sich Karlina zu. Verlegen sahen die beiden sich an - unsicher, wie sie sich verabschieden sollten.
„Viel Glück!", sagte Karlina schließlich und umarmte Lena. „Wir sehen uns später - wenn es das Schicksal will ..."
Aufmunternd lächelte sie ihrer Freundin zu.
Mit kräftiger Stimme fügte Lena hinzu: „ ... und wenn dein blöder Onkel auf unseren ,Bluff' hereingefallen ist, was eigentlich kein Problem sein sollte. Beim Online-Pokern habe ich schon mal echtes Geld gewonnen und da musst du bluffen wie sonst was!"
„On ... was?" Karlinas Blick ließ Lena schmunzeln.
„Vergiss es.", sagte sie.
Schnell schwang sich Lena auf den Balken und balancierte zum Fenster, wo sie sich noch einmal umdrehte.Sie griff in die Tasche, holte einen Gegenstand heraus und warf ihn Karlina zu. Es war ihr Dietrich. Geschickt fing Karlina ihn und blickte erstaunt auf.
„Behalt ihn, Karlina", rief Lena ihr zu. „Ich brauche ihn nicht mehr. Die Tür der Kammer ist offen. Wer weiß, vielleicht löst sich der Befehl deines Onkels ja auf wunderbare Weise in Luft auf und der Dietrich kann dir helfen hier herauszukommen, um mir zur Hilfe zu kommen. Und wenn doch alles schief geht, dann behalt ihn als Erinnerung an mich. Vielleicht kannst du deinen Onkel damit in Zukunft ein bisschen ärgern!"
Lena und Karlina grinsten sich an. Dann drehte sich Lena auf dem Balken, lief zum Fenster und kletterte hinaus auf den Sims.
Bevor sie sich auf das Dach hinabließ, fiel ihr Blick innerhalb des Turms hoch zum Turmgewölbe.Unzählige Fledermäuse hingen dort kopfüber von der Decke herab.
Bildete sie es sich nur ein oder verfolgten die Tiere Lena tatsächlich mit ihren Blicken?
Eilig schwang sie ihre Beine nach draußen und kletterte über metallene Treppenstufen zum First hinauf. Vor sich sah Lena den Schornstein, durch den sie zu Beginn ihres Abenteuers geklettert war.Weit hinten erblickte sie das auf dem Dach liegende Seil. Lenas Blick wanderte nach Osten zum Horizont.
War da nicht schon ein leichter Lichtschimmer zu erkennen? Rasch machte sie sich auf den Weg in Richtung Kammer.
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasía„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...