„Puh, danke, Herr Professor!", seufzte Lena, als Pierre außer Hörweite war. „Hätten Sie mir noch länger widersprochen, dann wäre mir nichts anderes übrig geblieben, als Ihnen einen Tritt zu verpassen, wie ihn sonst nur Ihr Assistent bekommt!"
„Das hätte mir vermutlich einmal ganz gut getan", antwortete der Professor grübelnd. „Zuweilen bin ich ein wenig roh mit dem liebenswerten Pierre."
Stirnrunzelnd fuhr er fort: „Nun aber zu Ihrem Plan! Ich gehe davon aus, dass die Version, die Sie uns erzählt haben, nur dem Zweck diente, Pierre im Unklaren zu lassen, damit er beim Grafen nicht alles ausplaudert, vermute ich richtig?"
„So ist es, doch bevor ich Ihnen meinen Plan erkläre, sagen Sie mir bitte Folgendes: Kann man wirklich gar nichts gegen die Macht des Ringes unternehmen? Ich meine, wirkt er auch, wenn man wegschaut oder sich auf etwas anderes konzentriert?"
Der Professor seufzte. „Nichts hilft gegen die Macht des Ringes. Es ist allenfalls möglich, über falsche Antworten nachzudenken, jedoch unmöglich, sie zu äußern. Sie haben durchaus richtig gehandelt, als Sie Pierre gegenüber einen unverfänglichen Plan dargelegt haben. Wir können nur hoffen, dass alles gut geht."
„Sie haben Recht, Herr Professor, es ist ein riskanter Plan. Pierre weiß einiges, das der Graf nicht erfahren darf. Ihren Ring sollte er auf keinen Fall erwähnen, daher habe ich ihn aus der Version meines Plans herausgelassen. Wir müssen uns auf die Arroganz und Überheblichkeit des Grafen verlassen. Er muss sich ganz einfach mit Pierres Erklärungen zufrieden geben", Lena zitterte bei dem Gedanken daran, wie es ihnen allen ergehen würde, wenn der Graf Lunte roch.
Aufgehängt im Verlies oder ein unfreiwilliger Blutspender, beides jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Entschlossen fuhr Lena fort.„Und jetzt zu meinem eigentlichen Plan: Ich werde mich gleich auf den Weg machen, um das Tagebuch zu holen und alles, was sich sonst noch in dem Versteck befindet. Sie gehen zu Karlina in den Traurigen Turm. Mit der Hilfe Ihres Ringes werden Sie sie befreien. Anschließend treffen wir uns hier wieder und Karlina wird versuchen, Sir Rigoberts Text zu lesen. Und dann, mein lieber Freund, haben wir hoffentlich genug in der Hand, um mit dem Grafen zu feilschen", der Professor nickte zustimmend.
„Sollten wir jedoch nichts in der Hand haben, weil niemand das Tagebuches hat lesen können und auch sonst nichts im Versteck zu finden war, dann ... ja dann ..." Lena hielt inne und suchte nach Worten, „... dann werden wir eben bluffen müssen!"
Fragend schaute der Professor Lena an: „Bluffen? Was meinen Sie mit bluffen?"
Lena musste schmunzeln. „Man merkt wirklich, dass Sie aus einer anderen Zeit kommen, Herr Professor. Haben Sie denn nie Karten gespielt? Ich werde es Ihnen erklären: Bei einigen Kartenspielen gibt man vor, ein gutes Blatt zu haben, um seinen Gegner zu beeindrucken. In Wirklichkeit hat man aber nur Nieten auf der Hand. Der Gegner weiß das natürlich nicht und gibt auf, verstehen Sie?"
Der Professor sah Lena mit großen Augen an. „Sie wollen dem Grafen also erzählen, Sie hätten die Lösung des Problems im Tagebuch gefunden? Aber der Graf wird bei näherem Hinsehen schnell merken, dass Sie, wie sagten Sie so schön, bluffen. Und was dann?"
„Das, Herr Professor, ist der entscheidende Moment. Hier kommt unser größter Trumpf ins Spiel: Der Ring! Sollten all unsere Stricke reißen, bin ich mir sicher, dass der Graf Sie zwei auffordern wird, mir das Tagebuch abzunehmen. Sie werden dem Befehl zunächst folgen. Wenn Sie das Buch dann in Ihrem Besitz haben, werden Sie dem Grafen drohen, es mit einer der Fackeln zu verbrennen."Der Professor schien darüber nachzugrübeln.
„Das hat übrigens seinerzeit schon Sir Rigobert versucht – allerdings ohne Erfolg. Karlina hat mir die Geschichte erzählt. Tja, und sollten die Fackeln aus irgendwelchen Gründen nicht brennen ...", Lena zuckte mit den Achseln, „... dann müssen wir das Tagebuch eben aufessen, wie Pierre ja schon vorgeschlagen hat!" Lena schmunzelte beim Gedanken an dieses Bild.
„Es ist ein Risiko, aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht."
Der Professor dachte noch einen weiteren Moment nach.„Fräulein Lena, warum nehmen Sie nicht selbst den Ring und drohen dem Grafen mit der Vernichtung des Tagebuchs?"
„Denken Sie nach, Herr Professor. Sie brauchen den Ring selbst. Ohne ihn würden Sie dem Grafen meinen Plan frühzeitig verraten oder in seinem Sinne durchkreuzen!"
Der Professor nickte, gab allerdings zu bedenken: „Wir müssen den Tausch sehr geschickt anstellen. Sonst entdeckt der alte Kauz den Schwindel, bevor wir aus dem Schloss fliehen können. Es ist immerhin eine Chance, und so wie es im Moment aussieht unsere einzige."Nun glomm ein kleiner Funke in den weisen Augen des Professors auf.
„Wirklich bedauernswert, dass wir auf diese Weise dem Geheimnis der zweiten Kartenhälfte nicht näher kommen werden. Aber damit müssen wir wohl leben." Bei dem Wort „Leben" jedoch, schien der Funke in den Augen des Professors zu einem Leuchten zu werden.
„Wir sollten uns jetzt beeilen", fuhr er fort, „unsere Zeit ist knapp bemessen!"
Genau in diesem Moment hielt Lena unvermittelt inne.Hinter dem Professor hatte sie eine winzige Bewegung bemerkt, und nun sah sie es.
Auf einem der vielen Gemälde kauerte eine schwarze und besonders hässliche Ratte und blickte sie aus zwei leuchtenden Augen an. Das Tier war Lena bereits am gestrigen Tag aufgefallen. Ihre Mitschülerin Pia hatte es auf dem Bildnis des Grafen entdeckt.
„Was ist mit Ihnen, Fräulein Lena, geht es Ihnen nicht gut?", fragte der Professor.
„Geben Sie mir Ihren Ring, Herr Professor, sofort!"
„Aber ..."
„Vertrauen Sie mir bitte, schnell!"
Der Professor holte den Ring aus der Jacke und reichte ihn herüber. Vorsichtig griff Lena danach und zeigte dann mit einer plötzlichen Bewegung auf die Ratte.
„Halt!", rief sie. „Nicht bewegen!"Augenblicklich wurden die Augen der Ratte glasig und ausdruckslos.
Der Professor drehte sich um. Als er die Ratte sah, verengten sich seine Augen.„Gut gemacht, junges Fräulein. Das ist Lorrox, des Grafen Hausratte und Spion. Womöglich hätte sie ihm unseren Plan verraten."
Nach kurzer Suche fand er eine alte Zigarrenkiste, die auf einem der Tische platziert war und öffnete den Deckel.
„Wie gut, dass nicht alle Ratten in diesem Schloss so abstoßend sind", sagte er, als er sich vorsichtig auf die Ratte zu bewegte.
„Sie müssen wissen, dass Ihre Freundin Karlina viel Zeit mit der kleinen Lorraine verbringt. Sie hat ihr übrigens auch den Namen gegeben." Der Professor ergriff den hässlichen Lorrox am Schwanz und steckte ihn in die Kiste.
„Lorraine ...", Lena sprach den Namen aus, als würde sie ein unbekanntes Gericht probieren. „Ein schöner Name, viel schöner als Lorrox. Das klingt einfach nur bösartig."
„Da haben Sie recht", seufzte der Professor. „Bedenkt man die Charaktere der beiden, sind die Namen wirklich treffend gewählt."
Nachdem der Deckel wieder verschlossen war, stellte er die Kiste auf den Tisch, holte ein schweres Buch aus einem der Bücherregale und legte es auf das improvisierte Rattengefängnis.„So, das sollte genügen", sagte er zufrieden. „Und nun müssen wir uns beeilen. Ich werde Karlina befreien und anschließend treffen wir uns wieder hier!"
Lena nickte und die zwei machten sich auf den Weg.In der Zigarrenkiste fing es an zu rascheln. Der Ring des Professors war nicht stark genug, der Graf hatte das Tier schon zu lange in seinem Bann gehabt.
Die Ratte entblößte ihre Nagerzähnchen und begann langsam aber stetig am Holz ihres kleinen Gefängnisses zu knabbern ...
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasi„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...