Das Verlies

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Für kurze Zeit herrschte gespannte Stille zwischen den beiden. Dann hörte Lena, wie Karlina sich bewegte und an der steinernen Wand entlang tastete.

„Irgendwo sollten hier ... aah, da sind sie ja!"

Lena hörte ein kurzes Ratschen, dann erhellte ein Feuerschein die Dunkelheit. Karlina hatte eine Fackel in der Hand, an die sie ein brennendes Streichholz hielt. Sofort fing die Fackel Feuer und erhellte eine steil nach unten führende Kellertreppe.

„Dort hinunter, Lena, ich habe eine Idee!"

Mit der brennenden Fackel in der Hand rannte Karlina voraus, dicht gefolgt von Lena, die darauf konzentriert war, auf der engen Wendeltreppe nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Immer tiefer ging es nach unten, bis die Treppe unvermittelt endete und sie auf einem Boden aus festgestampfter Erde standen.

Vor ihnen öffnete sich ein schmaler, dunkler Gang. Es roch unangenehm nach abgestandener Luft, vermodertem Holz und feuchter Erde.

Widerwillig folgte Lena ihrer neuen Freundin in den Gang hinein, als ihr plötzlich dämmerte, wo sie sich hier befanden. Links und rechts in der Wand erblickte sie in kurzen Abständen schmiedeeiserne Gittertüren, hinter denen kleine, enge Verliese in den irdenen Boden gehauen waren.

Im Schein der Fackel sah Lena verrottete Holzpritschen, verbeulte Blechnäpfe, zersprungene Tonkrüge und zerrissene Kleidungsreste. Am schlimmsten aber war der entsetzliche Gestank. Lena hielt sich die Nase zu.

„Karlina, diese Gittertüren und die stinkenden Löcher dahinter, ist es das, was ich denke?"

„Wir befinden uns im Schlossverließ, Lena. Hier wurden über viele Jahrhunderte Menschen gefangen gehalten und das auf furchtbare Weise. Kein Licht, schlechte Luft, die feuchte Erde. Es muss grauenvoll gewesen sein. Sieh mal dort hinein."

Karlina leuchtete in eine Zelle hinein, an deren Wänden und Decken Ketten mit eisernen Ringen befestigt waren. Lena erschauerte bei dem Anblick.

„Sind die Gefangenen hier ... sind sie ..." stammelte sie.

Karlina beendete den Satz für sie: „... gefoltert worden? Ich weiß es nicht genau, doch ich vermute es."

Lena griff nach Karlinas Hand.

„Karlina, was machen wir hier? Wie sollen wir hier raus kommen? Früher oder später wird dein Onkel mit diesen beiden Typen die Tür oben geöffnet haben und dann sitze ich wieder in der Falle!" Lena war sich sicher, dass der Graf keine Sekunde zögern würde, ihr an die Gurgel zu gehen, wenn er sie erstmal in seinen grauenhaften Klauen hätte.

Karlina umschloss Lenas Hand mit ihren Händen.

„Vertraue mir, Lena. Der Grund, warum wir hier unten sind, ist der letzte Gefangene dieses Verlieses. Ich kann dir jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen. Nur so viel, wie du jetzt wissen musst. Dieser Gefangene hieß Sir Rigobert von Rasselbinge. Er war ein ... ein ganz sympathischer junger Ritter und ... und unglücklicherweise auch Vampirjäger, der vor ungefähr 250 Jahren hier ins Schloss gekommen ist. Sir Rigobert entwendete meinem Onkel mit viel List eine geheime Karte. Auf dieser Karte ist der Weg zu einem Ort verzeichnet, den wir Vampire Die Heimstatt nennen. Ein Ort, der uns gehört und den wir vor langer Zeit verlassen haben, um anderswo ... also, um woanders ..." Karlina suchte nach Worten, Lena war jedoch schneller.

„ ... um woanders frisches Menschenblut zu finden, ich verstehe schon. Wahrscheinlich habt ihr eure Heimstatt einfach komplett leergetrunken." Lena hätte gekichert, wäre es nicht ihr voller ernst gewesen. Sie dachte kurz nach. „Warum ist diese Karte so geheim?"

„Na ja, vermutlich wollten unsere Urahnen vermeiden, dass irgendwelche Vampirjäger den Weg in unsere Heimstatt finden. Aus diesem Grund war wohl auch Sir Rigobert hinter ihr her. Wir sind schon immer von euch Menschen gejagt worden. Viele von uns wurden tagsüber in ihren Särgen oder Bilderrahmen heimtückisch angegriffen und vernichtet."

„Weißt du was? Ich habe irgendwie vollstes Verständnis dafür, kannst du dir denken, warum?" Mit einer Handbewegung wies Lena in Richtung ihrer Verfolger. „Deshalb!"

Karlina seufzte. „So ist das nun mal. Vampire leben von Menschenblut. Das war schon immer so." Nachdenklich fügte sie hinzu: „Die Frage ist, ob das immer so bleiben muss, denn weißt du, wir hatten hier schon sehr, sehr lange kein Menschenblut mehr. Ich selber habe noch nie welches probiert - bis heute Nacht! Und trotzdem sind wir nicht dahingeschieden."

„Sehr lustig. Ihr seid doch schon längst gestorben, oder? Außerdem hast du heute Nacht mein Blut probiert und es schien dir ziemlich gut geschmeckt zu haben!" Lena grinste.

„Da hast du recht, ja, aber vielleicht ..." Karlinas Augen glänzten bei dem Gedanken an den winzigen Tropfen Blut.

„Also, der Weg in unsere Heimstatt ist bis jetzt nicht gefunden worden. Ich erkläre dir auch warum: Mein Onkel hat die Karte schließlich mit viel List von Sir Rigobert zurückbekommen, doch sie nützt uns nichts, da ein Teil von ihr fehlt! Irgendjemand muss sie vor langer Zeit zerrissen haben. Auf der abgerissenen anderen Hälfte der Karte aber befinden sich die entscheidenden Informationen über die Lage der Heimstatt. Wir suchen nun schon viele Jahre erfolglos nach ihr und -"

Das Vampirmädchen verstummte abrupt. Von der Wendeltreppe her war ein lautes Krachen zu vernehmen.

„Das ist alles sehr interessant, wirklich", beeilte sich Lena zu sagen, „Und wenn dein durstiger Onkel nicht wäre, könnte ich dir stundenlang zuhören, Karlina. Aber was hat das Ganze mit mir zu tun?!"

„Nun gut, meinem listigen Onkel gelang es schließlich, Sir Rigobert in einen Hinterhalt zu locken. Die gestohlene Kartenhälfte nahm er ihm wieder ab, obwohl Sir Rigobert drauf und dran war, diese mit Hilfe einer Fackel, die ich ... nun, die er in den Händen hielt, zu verbrennen. Anschließend wollte sich Onkel Karl an seine Mahlzeit machen.
In seiner Not stammelte der arme Rigobert etwas von einem Geheimnis, das die zweite Kartenhälfte barg und das er fast gelöst hätte. Und als Gegenleistung für seine Freiheit würde er dieses Geheimnis preisgeben." Karlinas Stimme überschlug sich fast, und sie schaute immer wieder hektisch über die Schulter. „Mein Onkel willigte ein, jedoch traute der Vampirjäger seinen Worten nicht. Also steckte Onkel Karl ihn in eines der Verliese, um ihn gefügig zu machen. Es muss furchtbar gewesen sein, Lena, ich ..." sie stockte und senkte den Kopf.

„Alles okay, Karlina? Was ist mit dir?" Lena trat an Karlina heran, deren Augen sich mit Tränen füllten.

„Nichts, es ist nur ... ach, es ist nicht wichtig." Karlina hatte sich wieder unter Kontrolle.

„Komm, wir müssen weiter." Die Mädchen schlichen den Gang entlang und Karlina fuhr hektisch fort zu erzählen.

„Nach einigen Wochen wurde mein Onkel ungeduldig und stellte ihn vor die Wahl: Reden oder gebissen werden. Ich war nicht dabei, doch mein Onkel erzählte mir später, dass ihm ein frisch gegrabenes Loch in einer Zellenecke Rigoberts Fluchtpläne verraten hatte. Da verlor mein Onkel die Nerven: Er fiel über ihn her. Und jetzt pass auf, Lena: Sir Rigobert floh nach dem Biss durch das Loch in den darunter liegenden Gang."

Genau in diesem Moment bogen die beiden Freundinnen in eine offen stehende Zelle hinein, an deren Ende Lena ein dunkles Loch in der Wand ausmachen konnte.

„Wo führt dieser Gang hin, Karlina?", fragte sie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

„Das ... äh ... nun das weiß ich nicht so genau", antwortete Karlina, „Aber er muss irgendwo nach draußen führen. Wir haben jedenfalls seither nichts mehr von Sir Rigobert gehört."

Ein leichtes Bedauern über das Verschwinden des Vampirjägers schwang in Karlinas Stimme mit. Sie beeilte sich weiterzusprechen: „Dieser Gang ist der einzige Weg, den du gehen kannst, Lena. Eile dich, schnell!"

Ganz kurz wunderte Lena sich über Karlinas altmodische Wortwahl. Dann seufzte sie: „Na, das sind ja tolle Aussichten, aber du hast recht, ich muss da wohl rein."

Eine Pause entstand.

Unsicher lächelnd schauten sich die beiden Mädchen an.

Lena empfand eine tiefe Dankbarkeit, wusste aber nicht, wie sie sie ausdrücken sollte. Und dann war da noch dieses Gefühl, als verberge Karlina irgendetwas vor ihr.

„Danke!", sagte sie schließlich nur.

„Wir sehen uns wieder!", Karlina zwinkerte ihr zu.

Gerade wollte Lena sich auf den Weg machen, da fiel ihr etwas ein. Karlinas Wortschatz war ja wahrscheinlich sehr veraltet.

„Uncool. Wenn jemand uncool ist, dann ist er nicht locker, verstehst du? Dann macht er Dinge, die wir in unserem Alter einfach nur blöd finden. Erwachsene sind leider sehr, sehr oft uncool!"

Karlina nickte. „Oh ja, da stimme ich dir zu!"

Verschwörerisch grinsten die beiden sich an. Dann wandte Lena sich ab und kroch in das dunkle Loch hinein.

Schon wieder war sie auf der Flucht.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt