Unentschieden

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Mitleiderregend war der Anblick der kleinen weißen Ratte.

Schwer verletzt und mit letzter Kraft hatte sie sich nach dem langen Fall durch den Kaminschacht aus dem Schlot geschleppt, bis unter die herausgerissene Metallklappe, die in dem dunklen Raum auf dem Boden lag.

Mit ihren dunklen, leuchtenden Äuglein schaute sie zu dem kleinen Fenster, durch das schon Lena sehnsüchtig den Vollmond betrachtet hatte.

Sie konnte sich kaum bewegen und die Bilder, die vor ihren immer trüber werdenden Augen traumgleich erschienen, zeigten Momente längst vergangener Tage ihres seltsamen Lebens.

Ihr Gegner, die Ratte des Grafen, hatte es etwas besser erwischt. Sie war nicht bis in den Keller, sondern in den vom Kaminschacht seitlich abzweigenden Gang gestürzt.

Doch auch sie hatte einige Blessuren davongetragen, konnte nicht mehr nach oben klettern und hatte keine andere Wahl als sich umzudrehen und in die andere Richtung zu humpeln, hinein in die Dunkelheit.

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Von all dem ahnte der Graf nichts. Er ging davon aus, seine kleine Spionin unten im Keller anzutreffen und von ihr Genaueres über die Geschehnisse im Schloss zu erfahren.

Nur ungern ließ er den Haupteingang unbewacht, aber das Risiko musste er eingehen, und er würde so schnell wie möglich wieder zurück sein.

Eilig hastete er die Treppe in den Keller hinab, gelangte in das Gewölbe, in dem der Schlot endete und steuerte zielstrebig auf die Öffnung in der Wand zu. Davor kniete er sich nieder und sah in den Schacht hinein. 

Nichts.

Suchend glitt sein Blick durch den Raum. Dann richtete er sich auf, hastete zur Tür, spähte in die Dunkelheit und ließ ein langes „Ssssssssst!" ertönen.

Nichts geschah.

Abermals durchsuchte er den Kellerraum. Eine Metallklappe am Boden fiel ihm ins Auge. Er ging darauf zu, bückte sich und hob die Klappe hoch.

Darunter lag, flach atmend und mit halb geschlossenen Augen, die kleine weiße Ratte.

Ihre Wunden bluteten nicht mehr, doch es war augenscheinlich, dass sie sich schlimm verletzt hatte. Offensichtlich war sie bewusstlos.

„So, so, hast du dich mit einem Gegner eingelassen, der dir eindeutig überlegen ist", sprach der Graf ohne Mitleid.

„Es scheint, als hättest du bis jetzt auf der falschen Seite gekämpft, kleiner Nager. Was dabei herauskommt, wenn man sich gegen Graf Karl stellt, hast du nun schmerzhaft zu spüren bekommen!"

Er nahm die Ratte in seine bleichen Hände und legte das Tier in die Tasche seines Umhangs. „Irgendwann wirst du aus deiner Ohnmacht erwachen und mir berichten. Und wer weiß, wofür ich dich sonst noch gebrauchen kann, bevor die Geschichte hier ein Ende hat."

Plötzlich vernahm der Graf von weit her gedämpftes, aber deutlich wahrnehmbares Schreien. Ohne zu zögern und eilte er mit wehendem Umhang die steinernen Stufen der Kellertreppe nach oben.

In der Eingangshalle hielt er kurz inne, um zu lauschen. Ein Poltern war aus den oberen Etagen zu hören - aus der Bibliothek, da war er sicher!

Seine Gedanken ratterten. Von der Bibliothek aus gab es nur zwei Treppen, die hier herab in die Eingangshalle führten. Er schaute zurück durch die Eingangshalle und sah am anderen Ende, ganz in der Nähe des Haupteingangs in der Dunkelheit, die andere Steintreppe, die nach oben führte.

Er musste sich entscheiden.

Wenn das Mädchen seinen beiden Dienern entwischt sein sollte, könnte sie die andere Treppe herabkommen.

Womöglich genau in dem Moment, in dem er auf dieser Seite nach oben lief.

Er lauschte in die Dunkelheit, konnte aber nichts hören. Dann fasste er einen Entschluss.

Zu viel war schon schief gegangen in dieser Nacht. Er musste die Sache jetzt endgültig selber in die Hand nehmen.

Mit einer entschlossenen Bewegung warf er seinen Umhang nach hinten und rannte die Treppe nach oben in Richtung Bibliothek.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt