Allein

23 3 0
                                    

Mit einem Ruck wurde Lena wach und fuhr erschrocken hoch. Ein Poltern hatte sie geweckt.

Zuerst dachte sie, sie wäre daheim vor dem Fernseher eingeschlafen, bis ihre Gedanken wieder klar wurden und sie bemerkte, dass sie keineswegs zu Hause war.

Es war kalt und vollkommen still. Fröstelnd sah sie sich um.

Jetzt erst fiel ihr auf, wie riesig die Fenster der Bibliothek waren. Wie ein Mosaik aus zahlreichen viereckigen Gläsern zusammengesetzt, reichten sie mit ihrem Rundbogen bis fast unter die Decke. Und dahinter: die schwarze Nacht! Durch eines der Fenster schien wie ein riesenhaftes Auge der Vollmond und zeichnete lange, unheimliche Schatten auf den Steinfußboden.

Lena begann zu zittern, was nur zum Teil an der Temperatur lag:

Sie war allein.

Plötzlich blickte sie unvermittelt in zwei helle Augen. Sie schrie auf, worauf eine große Ratte an ihr vorbei huschte und in die Dunkelheit verschwand. Erstaunlich. Es war die weiße Ratte mit der schwarzen Stelle zwischen den Augen, die sie tagsüber noch gefüttert hatte.

Lena dachte nach. Wo waren ihre Mitschüler und Frau Hasenjäger? Hatte ihre Klasse sie einfach vergessen? Mit klopfendem Herzen fiel ihr ein, dass sie zu Hause für einige Tage allein war, ihre Eltern befanden sich auf einer Geschäftsreise. Niemand würde sie vermissen ...

Unversehens ertönte ein knarrendes Geräusch, als würde jemand sehr langsam über morsche Dielen laufen. Lena wurde es noch etwas kälter.

Mit einem lauten Knarren sprang sie aus dem Sessel, blieb aber augenblicklich wie angewurzelt stehen.

In der Ferne hörte sie eine Kirchturmuhr schlagen. Sie zählte die Schläge:

1 ... 2 ... 3 ...

Sie hatten sie doch tatsächlich hier alleine gelassen!

... 4 ... 5 ... 6 .... 7 ...

Nicht einer ihrer Mitschüler hatte ihre Abwesenheit im Bus bemerkt - nicht mal der doofe Sven.

... 8 ... 9 ... 10 ...

Und mit einem Schlag wurde ihr klar, dass niemand da war, der ihr helfen konnte.

...11... 12!

Es war Mitternacht. Oft hatte Lena sich ausgemalt, wie es wäre, sich in einer solchen Situation zu befinden. So wie ihre Romanfiguren, wie einer dieser furchtlosen Helden, die keine Angst hatten und genau wussten, was zu tun war. Aber Lena fühlte sich überhaupt nicht wie eine Heldin.

War da nicht schon wieder ein Geräusch?

Vorsichtig bewegte sie sich zu der Flügeltür, die aus der Bibliothek hinausführte. Der Gang dahinter war leer.

Lena huschte durch die Tür zur steinernen Treppe, die in der Eingangshalle endete, und schlich leise hinunter. Am Fuß der Treppe lugte sie vorsichtig um den steinernen Durchgangsbogen.

Wieder vernahm sie ein leises Geräusch, ein Knarren und Klappern, als würde irgendetwas gegen die Wand schlagen.

Lenas Zittern wurde schlimmer. Sie hatte das Gefühl, man könnte ihren Herzschlag bis hinunter in den Schlosshof hören.

Hier unten erhellte der Mondschein die Dunkelheit kaum, doch am anderen Ende der Halle glaubte Lena den Umriss der riesigen Eingangstür zu sehen. Sie begann zu rennen. Nach einem letzten großen Satz ergriff sie die schwere Klinke und drückte sie hinunter - nichts passierte!

Sie versuchte es wieder und wieder, doch die große Tür war abgeschlossen. Ihr fielen die Worte des Hausverwalters wieder ein: Bis auf diesen Haupteingang waren alle Zugänge zum Schloss aus Sicherheitsgründen zugemauert worden.

Hektisch suchte Lena in ihren Hosentaschen herum, fand schließlich ihren Dietrich, und versuchte ihn so ruhig es ging in das alte Schloss zu stecken.

Plötzlich ertönte wieder dieses furchterregende Knarren. Lena lauschte angestrengt.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt