„Die Jagd ist zu Ende, kleines Mädchen", sprach der Graf ruhig und entblößte mit einem breiten Grinsen seinen verbliebenen Vampirzahn.Lena stockte der Atem. Ihr Blick fuhr herum. Im rechten Gang sah sie Karlina schnell näher kommen. Auf der linken Seite schritten zwei weitere Gestalten mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Lena saß in der Falle.
Wie ein gehetztes Tier ging ihr Blick von einem Angreifer zum anderen und blieb schließlich auf Karlina haften, die mit erhobenen Händen auf sie zu kam.
„Karlina ...", rief Lena mit hoffnungsloser Stimme. Sie lehnte sich schwer gegen die verschlossene Holztür und ergab sich in ihr Schicksal. Sollten sie mit ihr machen, was sie wollten, es war ihr egal. Sie konnte nicht mehr.
Karlina war als Erste bei ihr angekommen und hielt inne.
„Pack sie, mein Kind!", rief der Graf, der einige Schritte von den beiden entfernt stand. Der Professor und sein Assistent standen reglos da. An den Wänden und an der Decke tummelten sich zahllose Spinnen wie Zuschauer dieser seltsamen Szene. Die Spannung war kaum zu ertragen.Lena erwartete jeden Moment einen Biss in ihren Hals und wünschte sich, dass dieser Alptraum schnell zu Ende gehen möge.
Karlina stand unentschlossen vor Lena und rang mit sich. Sie hatte noch den Geschmack von Lenas Blutstropfen im Mund, er war köstlich gewesen! Doch dann dachte sie an ihr gemeinsames Lachen in der Eingangshalle. Wie lange hatte sie sich danach gesehnt?
Jahrzehnte? Jahrhunderte? Schon viel zu lange.
Und dann traf sie eine Entscheidung.
„Onkel Karl, ich ... ich kann nicht ...!"
Im selben Augenblick hob sie den Kopf und stieß schnell hintereinander kurze, zischende Laute aus.Urplötzlich ließen sich unzählige Spinnen von der Decke herab auf den Grafen und die beiden Halbvampire fallen. Fluchend versuchten die drei, sich von den Spinnen zu befreien.
„Ich habe viel Zeit mit Spinnen und anderen Tieren verbracht. Sehr viel. Und jetzt komm, Menschenkind!", rief Karlina Lena zu, die sich von diesem komischen Anblick nicht losreißen konnte. „Komm schnell!" Karlina zerrte Lena am Arm zu der schweren Holztür.
Sie drückte die Klinke nach unten und warf sich mit aller Kraft gegen das Holz. „Hilf mir, los!"
Lena sah, wie der Graf und seine beiden Gehilfen sich zappelnd und laut fluchend langsam von den Spinnen befreiten. Das brachte sie zur Besinnung.Gemeinsam mit Karlina warf sie sich mit aller Kraft gegen die Tür.
„Lena!", schrie Lena mitten in diesem Tumult.
„Wie bitte?", fragte Karlina, als sie sich erneut gegen die Tür warfen.
„Ich heiße Lena, nicht Menschenkind!"
Mit einem Krachen öffnete sich die Tür. Die beiden Mädchen wären fast die dahinter liegende Treppe hinuntergefallen. Karlina konnte sich gerade noch an der Türklinke festhalten, wurde aber um Haaresbreite von Lena, die sich an ihrem Umhang festgekrallt hatte, mit in die Tiefe gerissen.
„Also schön‚ Lena und nicht Menschenkind, jetzt aber schnell!", rief Karlina ungeduldig. „Die Tür muss wieder zu. Hilf mir!"
Die beiden Mädchen drückten die Tür von innen zu. Es wurde stockfinster. Hektisch tastete Karlina auf den Treppenstufen herum und fand schließlich, wonach sie suchte: Einen Holzpfahl, den sie eilig aufstellte und unter der Türklinke festklemmte – die Tür war von innen verschlossen.
„Mein Versteck, wenn Onkel Karl mal wieder schlechte Laune hat – und das geschieht öfter ...", seufzte das Vampirmädchen in der Dunkelheit. Fast im selben Moment hämmerten Fäuste von der anderen Seite gegen die Tür, gedämpfte, wütende Stimmen redeten durcheinander.Lena zuckte zusammen, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte. Karlina nahm sanft Lenas Hand in ihre.
„Freunde?", flüsterte sie.
Lena entspannte sich, nahm einen tiefen Atemzug und antwortete: „Freunde!"
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasy„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...