34. Positiv denken

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Die nächsten Tage waren schrecklich. Anstatt fröhliche Weihnachten zu feiern, verbrachte ich jede freie Minute bei Dylan und fuhr nur nach Hause, um mich umzuziehen und mich zu duschen. Ich schlief sogar im Krankenhaus bei Dylan im Zimmer auf einer selbst mitgebrachen Luftmatratze, nachdem ich mir die Erlaubnis der Ärzte eingeholt hatte.

Tagsüber verbrachte ich die Zeit damit, Dylan vorzulesen, ihm Musik vorzuspielen, seine Hand zu halten oder einfach mit ihm zu reden, auch wenn er mir nicht antworten konnte. Die Ärzte hatten mir gesagt, dass er mich trotz des künstlichen Komas noch wahrnehmen würde und sowohl körperlicher Kontakt als auch Gespräche wichtig für ihn und seinen Heilungsprozess waren. So erzählte ich jeden Tag über unsere schönsten gemeinsamen Erinnerungen, wie die Parcoursweltmeisterschaft von vor vier Jahren, den Urlaub in Paris, die Besuche bei meinen Eltern oder unseren Einzug in Philadelphia, obwohl mir eigentlich nur nach Heulen zu Mute war.

Die Schuldgefühle zerfraßen mich innerlich, wenn ich Dylans von blauen Flecken übersähten Körper, mit den vielen Verbänden und Gipsen unter der künstlichen Beatmung sah. Es zerbrach mir das Herz, ihn so zu sehen und zu wissen, dass er nur wegen mir so zugerichtet war. Selbst wenn Kate, George und meine Freunde mir versicherten, dass es nur eine Verkettung unglücklicher Umstände war, gab ich mir selber die volle Schuld an dem Unfall. Hätte ich mich doch nur nie auf Milan eingelassen, dann wäre es nie soweit gekommen!

Den schmerzerfüllten Blick, den Dylan mir auf der Party zugeworfen hatte, würde ich nie wieder vergessen, er hatte sich förmlich in mein Gehirn gebrannt. Was wäre, wenn ich nie die Gelegenheit bekommen würde, mich bei ihm zu entschuldigen?

Ein Schluchzen nahm Ergriff von meinem Körper und ich legte schnell das Buch ab, aus dem ich Dylan bis eben vorgelesen hatte und stürzte nach draußen. Dort ließ ich mich neben der Tür auf den Boden gleiten und schlug mir die Hände vors Gesicht, während mir unaufhörlich Tränen über die Wangen liefen. Ich wollte nicht vor Dylan weinen, ich wollte für ihn stark sein, deshalb rannte ich jedes Mal nach draußen, sobald ich merkte, dass meine Augen feucht wurden.

In Momenten wie diesen merkte ich erst, wie sehr ich mit meiner Kraft eigentlich am Ende war. So sehr ich mich auch bemühte, positiv zu bleiben, innerlich fühlte ich mich einfach nur erschöpft und kurz vorm Zusammenbruch. Kate und George, die Dylan ebenfalls täglich besuchten und vorübergehend in unsere Wohnung eingezogen waren, hatten mich schon mehrfach besorgt gebeten, mir etwas mehr Ruhe zu gönnen und mal einen Tag zu Hause zu bleiben, aber das wollte ich nicht. Ich wollte unbedingt dabei sein, wenn Dylan aufwachte.

Bei jeder kleinsten Regung, die Dylan zeigte, lief ich zu seinem Bett, in der Hoffnung, dass er aufwachte. Das war mein einziger Weihnachtswunsch für dieses Jahr, ich wünschte mir einzig und allein, dass Dylan gesund aufwachte. Denn das war meine nächste Angst - was wäre, wenn Dylan zwar aufwachte, sich aber nie wieder ohne Rollstuhl fortbewegen könnte? Das würde ihn psychisch kaputt machen, dass wusste ich. Würde er so überhaupt noch leben wollen oder sich wünschen, der Lieferwagen hätte ihn ganz erwischt?

Bei diesem Gedanken verstärkte sich mein Schluchzen und es fühlte sich so an, als würde man mir mein Herz mit einem Messer brutal in kleine Stücke zerteilen. Ich würde Dylan unterstützen, komme was wolle, aber ich würde es nicht aushalten, wenn er wegen dem Unfall seine Gehfähigkeit und Lust am Leben verlieren sollte. Daran würde nicht nur er zerbrechen, sondern auch ich.

Plötzlich spürte ich, wie sich eine warme Hand auf meine Schulter legte und blickte hoch. Auch wenn meine Sicht durch die Tränen verschwommen war, erblickte ich Ace, der sich neben mich auf den Boden gehockt hatte. Im nächsten Moment spürte ich auch schon, wie er seine starken Arme um mich schloss.

"Alles wird wieder gut, du musst nur ganz fest daran glauben", murmelte er in meine Haare, aber auch seine Stimme klang unsicher und nicht so, als würde er ganz fest daran glauben. Aber wer konnte es ihm verdenken, schließlich hatte er ebenfalls riesige Angst um seinen besten Freund.

The American DreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt