12. Paranoia

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"So Mädels, seid ihr startklar?" Emma warf einen prüfenden Blick in die Runde und schulterte ihren Rucksack. Um ihren Hals baumelte eine große, schwarze Kamera. So hatte sie tatsächlich etwas von einer richtigen Reporterin.

Leyla und ich nickten beide und grinsten uns gegenseitig an. Wir waren ebenfalls mit Kameras, Stativen, Zetteln und Stiften ausgerüstet.

Nachdem wir uns gestern nochmal zur Projektplanung getroffen hatten, wollten wir heute zum ersten Mal in eines der Vorstadtghettos gehen, um für unseren Dokumentarfilm über Straßenkinder zu filmen. Ich war schon ein bisschen aufgeregt, schließlich wussten wir alle nicht, was uns erwarten würde. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass Leyla tatsächlich mehr über das Leben von Waisenkindern auf der Straße wusste. Sie hatte zum Beispiel gesagt, wo wir mit dem Filmen beginnen sollten und hatte uns sogar einen Termin bei einem Waisenhaus besorgt.

Ich hoffte, dass Leyla sich vielleicht mit der Zeit mehr öffnen würde und uns ihre Geschichte erzählen würde. Sie hatte es in der Vergangenheit definitiv nicht einfach gehabt, das wusste ich auch so, ohne dass sie etwas darüber berichtet hatte.

"Ich würde sagen, wir gehen als erstes diese Straße entlang", schlug ich vor und blickte die dreckige Straße entlang. Ich war einfach nur froh, dass hellichter Tag war, im Dunklen hätte ich echt Angst, mich hier herumzutreiben.

"Finde ich gut", stimmte Leyla mir zu. "In der Lagerhalle die Straße runter sollen bei diesem kalten Wetter wohl mehrere Obdachlose übernachten."

Und so machten wir uns auf den Weg, wobei Emma mit ihrer Kamera bereits die Gegend aufnahm. Die Häuser hier waren ausnahmslos heruntergekommen und in den winzigen Vorgärten stapelte sich der Müll. Alles war grau und trist und das lag nicht nur an dem kalten Winterwetter. Dieses Philadelphia stand in keinem Vergleich zu den Wohngegenden, die wir gewohnt waren. Natürlich wussten die meisten Menschen, die in der Innenstadt lebten, dass es nicht allen so gut ging wie ihnen, aber der Ort an dem wir uns gerade befanden, sah fast aus wie eine andere Welt.

Je weiter wir in das Ghetto hineindrangen, desto fremder fühlte ich mich und ein mulmiges Gefühl überkam mich. Den anderen schien es ebenso zu gehen, denn unsere Gespräche waren verstummt und jeder war für sich selbst dabei, die ganzen Eindrücke mit dem Auge oder der Kamera einzufangen.

Ich war tatsächlich froh, als wir uns nach den Aufnahmen in der Lagerhalle wieder auf den Rückweg machten. So sehr ich mich am Anfang noch auf das Filmen gefreut hatte, desto mehr wurde mir jetzt bewusst, wie arrogant und unfair dies eigentlich gewesen war. Schließlich ging es hier um das Leben von anderen Menschen und nicht um ein einfaches Projekt.

Was wir heute alles gesehen hatten, sollte für keinen Menschen die Lebensrealität sein, aber trotzdem gab es selbst in der Großstadt eines reichen Landes, Menschen die sogar noch unter dem Existenzminimum lebten. Wir hatten so viele bewegende Geschichten erfahren, wie diese Menschen in dieses Leben hereingerutscht waren, wie Drogen- oder Alkoholprobleme ohne Hilfe bei der Behandlung bis hin zu schweren Krankheitsfällen bei fehlender Versicherung, wo die Menschen all ihr Hab und Gut verkaufen mussten.

So lag auch auf dem Rückweg eine erdrückende Stille in der Luft, während die Dämmerung über uns einbrach. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie tief wir in das Viertel eingedrungen waren, aber der Weg zur nächsten Ubahn-Station schien mir schier endlos zu sein.

"Hast du gerade noch ein Foto gemacht, Emma?", fragte Leyla in diesen Moment iritiert. Auch ich hatte das "Klick"-Geräusch gehört, aber als ich mich umdrehte, stand Emma da und band ihren Schnürsenkel. Sie konnte also definitiv kein Foto gemacht haben.

"Hä, ne. Wieso?" Emma sah verwirrt auf.

"Komisch, ich dachte, ich hätte es auch gehört", stimmte ich Leyla zu und blickte mich suchend um, aber konnte nichts erblicken, was dieses Geräusch hätte verursachen können.

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