I. Der alltägliche Stress des Alltags ✔️

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Das Gebäude der Werbeagentur Avens and Arts schoss vor mir in die Höhe. So mitten in der Innenstadt von San Diego, wirkte es nicht unbedingt riesig, dennoch hatte ich Müh und Not das Dach zu sehen. Seit über einem Jahr arbeitete ich hier in der Grafik-Abteilung, und jedes Mal raubte es mir den Atem wie hoch ein Gebäude sein konnte. In Santa Barbara war im Verhältnis alles immer kuschlig-klein gehalten.

„Jetzt trödel nicht immer so herum, Chloe! Komm endlich", maulte mein Zwilling Charly, der mich dann grob an der Hand packte und zum Eingang zog. Umständlich stolperte ich ihm hinterher und versuchte nicht über meine Absätze zu fliegen.

Durch die Schiebetür durch gingen wir rasch an der Rezeption vorbei und Richtung Personalaufzüge. Dort zeigten wir der Security unsere Ausweise und Charly stellte sich mit mir an der Schlange an, die zu den Aufzügen führte.

Bockig verschränkte er seine Arme vor der Brust und tippte hibbelig mit dem Fuß auf dem Boden. „Ich kann nicht glauben, dass wir wegen dir nun im Aufzugsstau feststecken."

Seufzend fuhr ich mir mit der Hand durch meine langen blonden Strähnen und blieb kurz darin hängen. Charly hatte mich zuhause so gestresst, dass ich keine Zeit hatte meine Haare zu richten. In meiner Handtasche suchte ich nach meinem Haargummi.

„Charly. Zum hundertsten Mal: Es tut mir leid, dass ich verschlafen habe", grummelte ich meine Antwort und band mir rasch meine Haare zu einem Zopf hoch. Gestern hatte ich noch bis spät in die Nacht an einem CD-Manual eines Kunden gearbeitet und war schlussendlich auch auf meinem Schreibtisch eingeschlafen.

In den nächsten Lift würden wir endlich hineinpassen. Leider wurde Charlys Laune dennoch nicht besser. „Ist klar, ich nehm's dir auch nicht übel, aber ich habe in zehn Minuten ein Meeting, muss noch meine Unterlagen holen und wenn ich wieder zu spät komme, kann ich mir vom Tyrannen höchstpersönlich was anhören."

Der Tyrann, wie mein Bruder sie netterweise nannte, war seine Chefin Andrea Navarro, die – wie sollte man es sagen – bei etwas größeren Projekten immer wieder einen Hang zur Kontrollsucht entwickelte. Charly musste in jenen Momenten ihren unfreiwilligen Assistenten mimen.

Mit dem nächsten Schwung betraten wir den eigentlich geräumigen Aufzug, wurden daraufhin jedoch fast an der Menge der Personen zerquetscht. An den Köpfen der Menschen vorbei, konnte ich erkennen, wie gerade einige der Abteilungschefs in den privaten Personenaufzug traten, die bei Weitem niemals so voll wurden wie die Öffentlichen.

Gerade als ich zwischen meinen Bruder und einem leicht übergewichtigen Mann zerdrückt wurde, wünschte ich mir, ich hätte auch eine von diesen VIP-Zugängen.

Im 6. Stock musste Charly mich verlassen. Eilig drängelte er sich durch die Menschen, die ihm entweder missbilligende Blicke zuwarfen oder ihn komplett ignorierten.

„Viel Glück!", rief ich ihm noch zu und hob zum Abschied die Hand.

Mein Zwilling schenkte mir noch ein Grinsen, ehe die Türen wieder zu gingen und ich in den 8. Stock hochfuhr.

Angekommen ging ich am kleinen Empfang der Grafik-Abteilung vorbei, begrüßte Belinda, die dort hinter dem Schreibtisch saß, mit einem Lächeln und zielte auf meinen Bürostuhl zu. Müde ließ ich mich auf ihn fallen, rollte automatisch ein paar Zentimeter über den Laminatboden, und kreiste meine Schultern.

Neben mir hörte ich Steve lachen.

Ich schielte zu ihm und konnte mir selbst ein Lächeln nicht verkneifen. Steve war mein sympathischer Platzgenosse, der netterweise jeden Morgen an mich dachte, wenn er im Café gegenüber seinen Chai Latte holte, was ihn somit zu meinem besten Freund machte.

Schmunzelnd überreichte er mir meinen Cappuccino. Seine weißgefärbten Haare standen ihm wild vom Kopf, während der goldene Ring in seiner Nase mit seiner guten Stimmung um die Wette glänzte.

„Da hat aber jemand tiefere Augenringe als Margie aus dem Verkauf", spielte er auf eine Kollegin an. Margie war bekannt dafür sich ständig zu überarbeiten.

Dankend nahm ich einen Schluck aus dem Becher und... Gott! Tat das gut! Ich fühlte wie etwas mehr Energie meinen Körper durchströmte. Neckend streckte ich ihm die Zunge heraus und traute mich gar nicht auf meinen Schreibtisch zu schauen. Ich wusste, dass sich bereits wieder einige neue Aufträge darauf stapelten. Bereits seit zwei Wochen machte ich durchgehend Überstunden, um alle Deadlines irgendwie auf die Reihe zu bekommen, doch so wie mein Leben mich mit meinem Schlafmangel liebte, kam es noch schlimmer.

„Clark hat angerufen und gefragt, ob das Corporate Design für Mr. Ramirez schon morgen fertig sein könnte", informierte Steve mich und setzte sich an seinen Tisch gegenüber von meinem. „Und die Entwürfe für das Logo der Carter Group müssen heute Nachmittag stehen."

Zwei wichtige Aufträge, die plötzlich um einige Tage früher als zuerst besprochen fertig sein müssen. Müde legte ich meinen Kopf auf der Tischplatte ab und starrte den Stapel an, der aus der Perspektive um einiges höher wirkte.

Willkommen in der Arbeitswelt, Chloe Campbell.

Until FiveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt