XXXII. Liebeskummer, der Alltag und eine Prise Unauffälligkeit ✔️

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„Steh endlich auf."

„Nein."

„Charly, wir kommen noch zu spät zur Arbeit", versuchte ich es noch einmal und zog abermals an seiner Bettdecke. Doch diese hatte er akribisch um seine Beine gewickelt, und ohne die Einwilligung meines Bruders, würde ich die beiden nie trennen können.

„Mir egal. Ich bin heute krank", nuschelte er weiter in sein Kissen.

Entnervt setzte ich mich auf seine Bettkante und seufzte. Wenn wir noch irgendwie halbwegs pünktlich bei der Agentur ankommen wollten, mussten wir in spätestens zehn Minuten los. Deshalb war ich eigentlich auch schon fixfertig angezogen und wartete lediglich auf meinen Bruder, der seit Andreas uneleganten Abgang gestern wie ein Häufchen Elend in unserer Wohnung hing.

Ich konnte es ja verstehen, aber... „Jetzt komm schon. Ich weiß, dass ich richtig mies bin, wenn es ums Motivieren geht, aber wir – und vor allem du! – werden nächste Woche 27 Jahre alt, also verhalt dich auch dementsprechend. Versteck dich nicht wie ein Kind in deinem Bett, sondern stell dich deiner Frau wie ein Mann!"

„Sie ist nicht meine Frau", argumentierte Charly und atmete hörbar in den Kissenbezug.

Augenrollend stemmte ich meine Hände in die Hüften. „Und wie soll ich sie sonst nennen? ‚Ein Mädchen'? Das ist doch viel seltsamer, immerhin ist sie drei Jahre älter als wir."

„Chloe, bitte rede nicht über sie. Ich kann und will ihr nicht begegnen. Wenn ich gewusst hätte, dass ich nur ein Spielzeug für sie bin, wäre es mit uns niemals so weit gekommen", jammerte er und vergrub sein Gesicht tiefer in sein Kissen. Die blonden Haare standen ihm will vom Kopf und deutete auf eine schlaflose Nacht im negativen Sinne hin.

„Das ist der Nachteil, wenn man zusammen arbeitet", murmelte ich und schluckte den aufkommenden Kloß hinunter. An solche Szenarien möchte ich im Moment bestimmt nicht denken. Viel lieber konzentrierte ich mich auf das Glücksgefühl, dass ich seit gestern hatte.

Ich wusste, dass ich recht unsensibel war, wenn es um den Liebeskummer anderer Leute ging. Mit mir darüber zu reden, war normalerweise keine Option. Aber ich versuchte immer, sie auf irgendeine Art und Weise abzulenken, damit sie nicht ganz in dieses bodenlose Loch fielen.

Somit ließ ich mich übertrieben theatralisch auf meinen Bruder fallen, der nur einen überraschenden Ton von sich gab. Ich umarmte ihn herzhaft und hätte ihn im Moment am liebsten nicht losgelassen, doch keine Sekunde später stand ich auf und richtete mein Shirt und den Rock.

„Okay, Charly, ich lass dich in Ruhe und zwinge dich nicht zur Arbeit zu gehen. Dafür kochst du uns heute das Abendessen."

„Bis du nachhause kommst, ist das sowieso kalt. Also für was sollte ich überhaupt kochen?", motzte er und veranlasste mich dazu, ihm einen Schlag auf den Hinterkopf zu platzieren.

Vor Schmerz meckernd setzte mein Zwilling sich auf und rieb sich die Stelle, ehe er mich einen schmollenden Blick zuwarf.

„Lass es mich anders formulieren", korrigierte ich mich selbst. „Ich hätte gerne eine Paella mit frischen Meeresfrüchten, so wie Papá sie immer macht. Außerdem einen hausgemachten Schokopudding und einen gemischten Salat dazu. Vielleicht besorgst du uns auch einen Pack Coca Cola; wir haben keine mehr. Ich denke, jetzt brauchst du die Zeit doch bis ich wieder Zuhause bin, da ich sowieso vorhatte gegen sieben Uhr zu kommen."

Letzteres war absolut gelogen, aber für Charly würde ich versuchen früher nachhause gehen. Er mochte Andrea scheinbar sehr und wenn es ihm nun nicht gut ging, würde ich alles in meiner Macht Stehende versuchen, ihn nicht alleine in seinem Bett und in seinem Selbstmitleid versauern zu lassen. Das war das Schlimmste, was er in dieser Situation machen konnte.

Until FiveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt