XXVII. Die Rückkehr der Normalität ✔️

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Summend hüpfte ich am Montag neben Charly zum Agenturgebäude. Die Sonne erhellte die Straßen San Diegos und folgte uns bis zu den Aufzügen, wo sie durch die riesigen Fenster den Raum erwärmte.

Oh, ja! Heute würde ein guter Tag werden!

„Wie, um Himmelswillen, kann man bei so vielen Überstunden, wie du sie hast, so früh fröhlich und munter durch die Gegend spazieren?", murmelte mein Zwilling neben mir und gähnte einmal herzhaft. Ich machte mir nicht die Mühe ihm zu antworten, sondern schlang nur meinen Arm um seine Mitte und grinste ihn an. Das ließ er sich nicht nehmen und schnipste mir kurz ans Ohr, ehe er die halbe Umarmung erwiderte.

Im Aufzug wurden wir mal nicht von den Menschenmassen zerquetscht und stiegen schließlich im 4. Stockwerk aus, um uns auf den Weg zu unserem morgendlichen Projekt-Meeting zu machen. Auf dem Weg zum Seminarraum versuchte Charly mir immer wieder ein Bein zu stellen, was ich nur lachend ignorierte, bis wir vor der Tür ankamen. Scheinbar machte ich meinem Bruder einen Strich durch die Rechnung, als meine Laune auch nach seinen nervigen Versuchen immer noch auf Wolke Sieben schwebte und zwickte mir fest in den Oberarm, bevor er mir die Tür öffnete.

Grummelnd rieb ich mir über die schmerzende Stelle und strafte ihn mit einem bockigen Blicken, welcher sich jedoch rasch wieder in ein Grinsen verwandelte.

Mr. Avens wartete mit einigen anderen aus dem Team bereits geduldig im Seminarraum auf den Rest und wünschte uns höflich einen guten Morgen. Die schmalen Lippen waren wie jedes Mal zu einer ernsten Linie geformt und die Stimmlage ruhig und professionell. Dennoch bemerkte ich die warme Ausstrahlung seines Blicks, der für einen Moment länger auf mir lag als bei Charly.

Ich musste einen erleichterten Seufzer unterdrücken, ehe mir wieder wahrhaftig bewusst wurde, dass die Idee mit der Post-it-Konversation tatsächlich funktioniert hatte. Ehrlich gesagt, hätte ich das nie für möglich gehalten, uns so schnell zu versöhnen, aber in dem Fall hatte er scheinbar genauso darauf gehofft wie ich.

Meinen Zwilling und die anderen im Raum blendete ich komplett aus und lief auf den freien Platz neben ihm zu. Seine Augen folgten mir auf Schritt und Tritt.

Jedoch hielt mich eine Hand auf, die sich im Vorbeigehen um mein Handgelenk schloss. Leicht überrascht schaute ich zu David herunter, der lässig in seinem Stuhl lehnte.

„Chloe, setz dich zu mir!", meinte er fröhlich und zog mich prompt auf den Platz neben sich. Etwas verunsichert linste ich zu Mr. Avens, der nun beschäftigt in seinen Laptop starrte.

„Meinst du, du hast heute Zeit mit mir Essen zu gehen? Ich habe neulich einen wirklich guten Inder entdeckt und möchte ihn dir gerne zeigen."

Nun wieder David zugewandt, begann ich meine Sachen aus der Tasche zu packen und stellte meine Wasserflasche und Laptop auf den Tisch. „Klar, ich war schon lange nicht mehr Indisch essen", nahm ich die Einladung lächelnd an, was ihn nur zum Weiterschwärmen animierte.

Im nächsten Moment bemerkte ich, wie Charly mich und David von seinem Platz aus mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete. Ich wusste sofort, was er dachte, denn die gleiche Vermutung hatte ich schon seit einigen Tagen. David textete mich genauso voll, wie er es auch in der Schule damals getan hatte, bevor wir zusammengekommen waren. Dass es nun vielleicht in die gleiche Richtung gehen sollte, machte mich unruhig. Gleichzeitig wollte ich nicht zu viel hinein interpretieren und lächelte lediglich – unsere Freundschaft würde ich bestimmt nicht durch diese Gespenster in Gefahr bringen.

Etwas später kamen schließlich auch die restlichen Gruppenmitglieder und setzten sich verteilt an den großen Tisch. Da so viele nun an dem Projekt arbeiteten, wurde es immer enger im Seminarraum 4.10 und trotzdem fand jeder seinen Platz. Ms. Navarro reservierte sich den Stuhl neben meinem Bruder, Steve gesellte sich zu mir und neben ihm setzte sich Nick auf den – normalerweise meinen – Platz neben Mr. Avens.

Mein Chef begrüßte dieses Mal offiziell alle Mitarbeiter und dimmte mit der kleinen Fernbedienung in der Hand das Licht, ehe er die wöchentliche Präsentation startete und die Fortschritte unseres Projekts vortrug.

••◊••

Mit einem letzten Tippen beendete ich vorläufig das Protokoll. Ich würde es wieder nochmals überarbeiten müssen, jedoch konnte das bis zum Nachmittag warten. Eigentlich mochte ich es nicht die Teilzeit-Sekretärin zu mimen, aber insbesondere heute schien mich alles motivieren zu wollen.

„Bis nächste Woche sollen alle an ihrer momentanen Arbeit für das Projekt fertig sein", erklärte Mr. Avens noch und verschränkte seine Arme vor der Brust. „Es sind noch zwei Wochen bis wir der Jury unser ausgearbeitetes Konzept vorstellen. Wenn somit alle bis nächsten Montag ihre Aufgaben erledigen, haben wir noch genügend Zeit auftauchende Korrekturen zu machen."

Damit beendete er die heutige Sitzung und verabschiedete die Gruppe.

„Ich bin schon so gespannt, was die Stadtverwaltung zu unserer Idee sagt", wisperte David mir zu und ich nickte.

„Es wird ihnen gefallen, davon gehen ich aus", sagte ich selbstsicher und konnte ein Schmunzeln in Mr. Avens Richtung nicht vermeiden. Dieser wandte sogleich seinen Blick ab, als ich ihn beim Starren erwischte und konzentrierte sich auf seinen Bildschirm, während sein rechter Mundwinkel zuckte.

David räusperte sich kurz und ergatterte so meine Aufmerksamkeit zurück. „Also Indisch? Treffen wir uns um halb eins unten am Eingang?"

Ehe ich zustimmen konnte schaltete sich überraschend Steve ein. „Habe ich gerade ‚Indisch' gehört?", hakte er nach und legte seine Arme von hinten jeweils um meine und Davids Schultern. Steve war in letzter Zeit ein richtiger Sonnenschein, was mich vermuten lässt, dass mit Carly und dem Baby alles gut läuft.

„Kommst du mit?", lachte ich fröhlich und fand es insgeheim entspannter, nicht mit meinem Ex-Freund alleine zu sein.

„Das musst du mich nicht zweimal fragen, Chloelein!"

Damit räumte ich meine Sachen in die Tasche und stand auf. Aber gerade als Steve David und mich aus dem Raum schieben wollte, hörte ich Mr. Avens Stimme hinter mir. Ich deutete meinen Freunden an schon vorzugehen und versicherte David pünktlich im Foyer zu sein. Dann drehte ich mich zu meinem Chef um und schaute ihn fragend an. Mittlerweile waren nur noch er, Nick und ich im Seminarraum übrig geblieben. Wobei sein bester Freund mit seinem Smartphone spielte und scheinbar nur auf ihn wartete.

„Ja, Sir? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?", fragte ich und streckte unwillkürlich meinen Rücken durch.

Er sammelte einige Zettel zusammen und kam anschließend mit diesen in den Händen auf mich zu. „Hier. Bitte machen Sie vier Kopien davon und bringen Sie sie so rasch wie möglich in mein Büro."

Leicht enttäuscht, dass es nur das war, nickte ich ihm zu, nahm ihm die Papiere aus den Fingern und machte mich auf den Weg in die Grafik-Abteilung. Vermutlich war er noch nicht soweit, dass er von sich aus wieder ein normales Gespräch mit mir beginnen wollte und suchte den Kontakt lieber in unserem Arbeitsverhältnis – das war immerhin mehr als nichts.

Gedankenverloren blickte ich auf die Dokumente in meinen Händen und lachte gleichzeitig perplex auf. Mr. Avens hatte scheinbar beschlossen unsere Post-it-Konversation aufrecht zu erhalten, denn die kleine gelbe Notiz auf dem Deckblatt fragte mich ganz schlicht: »Machen Sie heute wieder Überstunden?«

Until FiveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt