Etwas übertrieben riss ich Jespers Bürotür auf und schloss sie sogleich hinter mir, damit ich mich kurz mit zusammengekniffenen Augen an sie lehnen konnte.
Wie peinlich konnte ich mich eigentlich noch verhalten? Wenn das so weiter ging, würde Steve noch viel schneller von Jesper und mir erfahren, als ich es aufhalten konnte.
„Wow, warum so energisch heute?"
Ich sah zu Jesper, der hinter seinem Schreibtisch saß und bis dato scheinbar auf seinem Laptop gearbeitet hatte. Nun jedoch betrachtete er mich mit einem etwas irritierten Blick und konnte sich gleichzeitig sein Schmunzeln nicht verkneifen.
Seufzend ging ich auf ihn zu, blieb vor seinem Tisch stehen und fuhr mir dabei mit einer Hand durch die Haare. „Weil ich-", begann ich, schüttelte daraufhin den Kopf. „Es ist nichts. Ich bin nur gerade...vor meiner Unauffälligkeit geflohen."
Seine Mimik verriet mir, dass ich weder ihm noch mir selbst einen Gefallen mit dieser kryptischen Antwort machte, weshalb ich einfach weiterredete: „Steve meinte, du wolltest mit mir über das Projekt sprechen? Ist alles okay? Kann ich irgendwie helfen oder...sag bloß nicht, es gibt wieder ein Problem mit DreamLine?"
„Oh, nein, nein. Alles gut", beruhigte Jesper meine aufkommende Unruhe. Er stand von seinem Bürostuhl auf und richtete sich sein dünnes Jackett, unter dem ich ein weißes Shirt hervorblitzen sah. „Ich habe ein neues Projekt für Sie, Ms. Campbell."
Alleine schon das Grinsen in seinem Gesicht wies daraufhin, dass er heute sehr zum Scherzen aufgelegt war. Er steckte mich fast sofort mit seiner guten Laune an und ich neckte ihn gleichermaßen zurück.
„Ach, ja, Mr. Avens? Dann klären Sie mich bitte auf."
Mit langen Schritten lief Jesper um seinen Schreibtisch und haute mich mit seinem Grübchen fast um – seit wann hatte ich überhaupt so eine Schwäche dafür?
„Es ist ein Projekt, dass Ihnen ausgezeichnet gefallen wird", meinte er und bot mir plötzlich in alter Manier seinen Arm an. „Und zwar werden wir zusammen Mittagessen gehen. Den Initiatoren ist es egal, wohin wir gehen, es sollten jedoch nur Sie und ich daran beteiligt sein."
Mein Lächeln war gar nicht mehr aufzuhalten, so glücklich machte mich dieses „Projekt" im Moment. Ohne zu zögern hakte ich mich bei ihm unter und rückte ganz nah an ihn heran. Dank meiner hohen Schuhe waren wir fast auf Augenhöhe und ich musste zugeben, dass ich es irgendwie liebte seine himmelblauen Augen aus dieser kurzen Distanz anschmachten zu können.
„Dann wollen wir doch dieses ultra-wichtige Projekt nicht länger hinauszögern", stimmte ich in seine Pläne ein und beugte mich unscheinbar zu ihm. Ganz leicht drückte ich meine Lippen gegen sein freches Grübchen, das sich daraufhin nur vertiefte.
Es fühlte sich so natürlich an, dass ich gar nicht darüber nachgedacht hatte.
Zusammen schritten wir die wenigen Meter zur Tür, als mir mit einem Schlag unsere Situation wieder einfiel.
„Warte!", hielt ich ihn zurück und erntete einen überraschten Blick von ihm. „Wir können da nicht gleichzeitig raus. Ich gehe als erstes und du folgst mir ein paar Minuten später, okay? Wir treffen uns dann bei- Wo gehen wir überhaupt essen?"
Jesper kräuselte leicht seine Nase, als er mich abschätzend anschaute. „Mir ganz egal. Wir können auch einfach nur ins Café gehen, wenn du nicht so großen Hunger hast."
„Nein, auf keinen Fall, das ist viel zu nah an der Agentur!"
„Ich weiß, wir sollten ‚uns' nicht an die große Glocke hängen, aber übertreibst du da nicht ein bisschen, Chloe?", entgegnete er und hob eine Augenbraue.
Bestimmt schüttelte ich den Kopf. „Wenn die CEO uns auch nur in irgendeiner intimeren Hinsicht zusammen sieht, sind wir beide erledigt und das weißt du. Dieses Risiko will ich bestimmt nicht eingehen, zudem deine Mutter meinen Job mit einem Fingerschnipsen beenden könnte."
Als hätte er mir nie zugehört, erschien auf einmal ein leicht laszives Lächeln auf seinen Lippen und er lehnte sich etwas zu mir, sodass sich unsere Nasenspitzen berührten. Mein Herz machte es Jesper gleich und ignorierte einfach meine Gedankengänge, indem es einige schnelle Hüpfer machte und das Blut schön in meine Wangen pumpte.
„Ach, du findest ein Essen also intim?", hakte mein Chef süffisant nach.
„Ich meine nur, dass es unauffälliger wäre, wenn wir nicht zu zweit bleiben würden. Dann würde es geschäftlicher wirken, als es vermutlich ist."
Ich konnte spüren, wie seine Lippen ganz sacht meine streiften, als er meinte: „Du redest viel, wenn du die Dinge zu sehr überdenkst."
Und im nächsten Augenblick schloss Jesper die letzten Millimeter und küsste mich; das leichte Lächeln legte er dabei nie ab.
••◊••
Meine Beharrlichkeit – irgendwohin essen zu gehen, wo uns keiner kannte und seine Mutter uns niemals vermuten würde – führte uns letztendlich in ein allbekanntes Fast-Food-Restaurant.
„Ich kann nicht glauben, dass wir dafür zehn Minuten mit dem Auto hierher gefahren sind", seufzte Jesper und guckte seine Pommes bemitleidenswert an. „Es gibt so viele Auswahlmöglichkeiten: Sushibar, Italiener und sogar griechisches Essen! Aber jetzt sitzen wir im McDonald's."
Daraufhin lachte ich nur böse und tunkte mein Chicken Nugget tiefer in meine Currysauce. „Gib's zu: Hier wird uns die CEO niemals finden."
Kopfschüttelnd wickelte er den Cheeseburger vor sich aus dem Papier. „Darauf kannst du Gift drauf nehmen, Chloe. Mom hält nicht viel von Billig-Restaurants", stimmte er mir zu und biss in seinen Burger.
Zufrieden betrachtete ich kurz die Innenraumgestaltung und aß ein weiteres Nugget. Es war schon einige Jahre her, dass sie das Gestaltungskonzept von Rot-Gelb auf das neue – viel besser und angenehm wirkende – Design umgestellt hatten.
Alleine die Tatsache, dass ich meine Umgebung so genau auf ihre Gestaltung analysierte, war wahrscheinlich der Fluch eines jeden Grafikers. Seit ich mich etwas mit diesen Themen auskannte, kam ich nicht mehr umhin, jedes Plakat, jeder Werbeslogan oder jedes Logo auf seine grafischen Bestandteile zu analysieren, egal ob es allgemeine Bewunderung war oder ich mir die ersten Verbesserungsvorschläge überlegte.
Jedoch schweiften meine Gedanken rasch in eine ganz andere Richtung: Charly.
Ob es ihm etwas besser ging? Würde er die Wohnung vielleicht mal verlassen, um für das Abendessen einkaufen zu gehen, oder würde er sich nur in seinem Bett verschanzen?
„Hast du heute schon Andrea Navarro gesehen?", fragte ich deshalb Jesper unverhohlen und musterte ihn interessiert, ehe ich am Strohhalm meiner Sprite sog.
Ehrlich gesagt, wollte ich mich nicht in Charlys Angelegenheiten einmischen, doch vermutlich trieb mich der Beschützerinstinkt einer Zwillingsschwester dazu, mit Andrea reden zu müssen. Vielleicht konnte ich sie dazu bringen, mit meinem Bruder ein klärendes Gespräch zu führen, denn wenn es nach ihm ginge, würde er nie wieder auch nur einen Fuß ins Agenturgebäude setzen.
Doch das Kopfschütteln meines Gegenübers dämmte meinen Tatendrang ein. „Ich wollte mich heute mit ihr wegen des Projekts treffen, aber sie hat mir am Morgen kurzfristig abgesagt. Scheinbar ist sie krank", erklärte er und zuckte mit den Schultern.
In diesem Moment verschluckte ich mich heftig an meinem Getränk und versuchte halb prustend, halb hustend wieder Luft zu holen. Besorgt klopfte Jesper mir über den kleinen Tisch hinweg ein paar Mal auf den Rücken.
Als ich mich einiger Maßen wieder unter Kontrolle hatte, konnte ich gar nicht anders als laut loszulachen. Jegliche Sorge um meinen Bruder fiel von mir und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich bei der Beziehung der beiden nichts zu befürchten hatte.
Wer hätte gedacht, dass die beiden sich so ähnlich waren?
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Until Five
Chick-LitEine Grafikerin in einer erfolgreichen Werbeagentur zu sein, hat so seine Tücken. Stress steht an der Tagesordnung und viel Zeit für Freizeit bleibt hierbei leider nicht, aber das ist Chloe egal! Sie liebt ihren Job über alles, obwohl sie das vor la...