„Mein Kopf hört grade einfach nicht auf zu denken."

34 1 0
                                    

Die nächste Woche glich wieder einem Traum und ich schwebte wie auf Wolke sieben. Noah war total euphorisch und auch Harper schien wieder ein wenig lebendiger. Zumindest diskutierten die beiden gerade über irgendein Computerprogramm, worüber ich überhaupt keine Ahnung hatte. Es war Freitag und heute Nachmittag hatte Noah sein erstes Footballspiel nach den Weihnachtsferien. Wir hatten noch eine Woche Januar und der Winter schien und ziemlich milde gestimmt zu sein, denn es war nicht allzu kalt und es schneite auch nicht.

Jedoch wusste ich, dass der Februar ein wenig weißer werden würde und ehrlich gesagt freute ich mich schon darauf, denn ich hatte so einige Schneeaktivitäten mit Noah geplant, die ihm immer ein Augenverdrehen entlockten und danach sofort ein liebevolles Lächeln. Harper starrte auf den Laptop, während Noah wild vor dem Bildschirm herumfuchtelte. Ich ließ die beiden auf unserer üblichen Bank sitzen und lief ein wenig über den Schulhof. Ich holte mein Handy heraus und hielt es eine Weile unentschlossen in den Händen. Dann atmete ich tief durch und wählte ihre Nummer. „Dr. McCoy, ja?" Ich presste meinen Kiefer aufeinander.

Ich wusste, dass ich mich lächerlich verhielt, aber seltsamerweise wurde ich immer wütend, wenn sie diesen Namen verwendete. Sie hatte ein neues Leben, einen neuen Mann, ein neues Kind. Sie schien selbst mich neu erfunden zu haben. Es war Dads Name. Ich schluckte tief und sagte angestrengt ruhig: „Ich bin's, Claire." Ich hörte wie sie einmal durchatmete. „Es ist schön von dir zu hören, Claire." Ich stutzte. Sie nannte mich nie Claire. Ich versuchte fokussiert zu bleiben: „Wie geht's dir?" Ich hasste Small-Talk.

Das Gute war, dass wir das wohl als Einziges gemeinsam hatten. „Überspringen wir das, bitte. Ich schätze, du hast meinen Brief erhalten?" Sie klang bitter, beinahe enttäuscht. Ich nickte, obwohl sie mich nicht sehen konnte. Und dann sah ich zu meinen Freunden, wie sie sich spielerisch stritten und wie Noah manchmal besorgt zu mir hinübersah. „Ich möchte dich besuchen kommen." Ich biss mir nervös auf der Lippe herum. Ich wusste nicht genau, warum ich diese Entscheidung getroffen hatte, aber ich wollte nicht mehr mit dieser ständigen Wut herumlaufen.

Ich hatte eine wunderschöne Zukunft vor mir. Warum also sollte ich mich weiter mit der Vergangenheit herumschlagen. Ich spürte Schuld in mir aufblitzen, weil ich realisierte, dass Prim Recht gehabt hatte. Ich hatte es nur nicht einsehen wollen. Ich würde sie wohl noch anrufen müssen und mich entschuldigen. Meine Mom war eine Weile still. Dann sagte sie ein förmlich: „War das die Idee deines Vaters oder die deine?" Ich blieb ruhig, denn ehrlich gesagt, war es berechtigte Frage. „Meine, Mom." Das schien zu wirken.

Ich hörte sie laut atmen, aber sie klang noch immer ein wenig förmlich: „Das finde ich sehr schön. Rufst du mich noch einmal an, um mir Bescheid zu geben, wann du vorhast zu kommen?" Ich sah zu Noah und fragte: „Kann ich jemanden mitbringen?" Seltsamerweise wirkte sie nicht überrascht: „Natürlich kannst du das." Sie musste mit Dad telefoniert haben. Ich versuchte ihr mein Lächeln zu vermitteln: „Danke, Mom." Jetzt hörte ich auch ihr Lächeln aus ihrer Stimme: „Gerne. Und Ju... Claire?" Ihre Stimme klang nun weicher, beinahe hoffnungsvoll. Ich fragte: „Ja?" Sie ließ sich nochmal Zeit. „Versprich mir, dich wirklich zu melden." Ich lächelte leicht: „Ich verspreche es." Sie atmete hörbar aus und sagte dann weich: „Ich freu mich wirklich." Ich atmete die kalte Luft ein: „Ich mich auch." Sie legte auf und ich lächelte leicht.

Manchmal war es so einfach etwas zu lösen. Manchmal brauchte man einfach nur Mut und eine Konversation. Ich steckte mein Handy wieder ein und lief zurück zum Tisch. Die beiden redeten immer noch, aber Noah sah mich kurz fragend an. Ich nickte lächelnd und setzte mich neben ihn. Seine Hand verflocht sich mit meiner und ich kuschelte mich an ihn. Wenn alles so bleiben würde, dann wüsste ich nicht, was ich mir noch wünschen könnte.

Harper drehte meinen Kopf unsanft zu ihr. Ich sah sie genervt an und befreite mich aus ihrem eisernen Griff. Sie kaute lose auf ihrem Kaugummi herum, den ich bis zu mir riechen konnte. „Du bist heute so launisch." Ich sagte genervt: „Ich bin nicht launisch." Sie sah mich unbeeindruckt an und ich seufzte und hielt mein Handy frustriert hoch: „Noah ist seit fünf Tagen unerreichbar. Er reagiert auf keinen meiner Anrufe oder Nachrichten." Ich wusste schon wieder nicht was eigentlich mit ihm los war. Und seltsamerweise war ich noch wütender als das erste Mal. Harper konzentrierte sich wieder auf ihren Laptop wo sie gerade Bilder sortierte: „Vielleicht ist er krank und braucht einfach mal ne kleine Pause?" Ich sah sie an: „Dann kann er mir doch einfach Bescheid geben oder? Wie er es das letzte Mal auch getan hat..."

Harper nickte halb zustimmend. Ich ließ mich schmollend ein Stück weiter in den Stuhl sinken. So kannte ich Noah eigentlich nicht, selbst wenn wir einmal eine Pause voneinander brauchten, konnten wir immer darüber reden. Theoretisch hatten wir das auch genauso ausgemacht als er vor einem Monat schon einmal so einen kleinen Aussetzer hatte. Als die Mittagspause fast zu Ende war, entschied ich mich ihm eine Nachricht zu hinterlassen, als er schon wieder nicht ans Handy ging. „Hey Noah, hier ist deine Freundin. Die sich übrigens Sorgen um dich macht. Weil du nicht auf ihre Nachrichten oder Anrufe reagierst." Harper sah mich kurz streng an und ich atmete einmal tief durch. „Entschuldige. Aber ich mach mir doch einfach nur Sorgen. Vielleicht kannst du mich ja nach der Schule zurückrufen... Ich hoffe, dir geht es gut. Ich liebe dich." Harper klatschte ironisch in die Hände und ich sah sie böse an.

Sie schulterte ihre Tasche und lief los. Als sie bemerkte, dass ich noch immer in Gedanken mit dem Handy in der Hand dastand, lief sie zurück, hob meine Tasche hoch und zog mich an meinem Ärmel mit ihr mit. „Manchmal braucht man eben einfach ne Pause, Claire. Und da hat man manchmal auch keine Lust irgendwem Bescheid zu geben, das ist einfach das Leben." Ich zog eine Schnute: „Ich brauche sowas eigentlich nicht." Harper verdrehte die Augen: „Und genau deswegen musst du meinen Rat gerade noch mehr wertschätzen. Mach dir mal keine Sorgen. Er wird sich schon melden."

Er meldete sich nicht. Als mich mein Dad am Freitagnachmittag fragte, wie es ihm ging, knallte ich meinen Teller in die Spüle, schnappte meine Jacke und machte mich auf den Weg zu ihm. Der noch kalte Januarwind biss sich in meinen Hals und ich schnaufte von meinem schnellen Schritt. Eigentlich hatte ich gedacht, dass die frische Luft mit vielleicht guttun würde, aber irgendwie spurte sie meine Wut nur noch mehr an. Vor allem weil Noah gewusst hatte, dass ich gestern ein ziemlich wichtiges Telefonat gehabt hatte mit der Universität in Washington.

Es war alles in Ordnung gelaufen, aber meine Gedanken waren die ganze Zeit bei Noah gewesen. Ich stapfte die Treppen zur Klingel hoch und presste fest darauf. Als Lilian öffnete, versuchte ich mich zu beherrschen. „Hey Lilian." Sie lächelte mich an: „Ich schätze, du möchtest zu Noah?" Ich nickte angebunden und sie musterte meinen angespannten Körper. „Er ist in seinem Zimmer." Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie mir erklären würde, was mit ihm los war, aber sie bat mich nur hereinzukommen und die Schuhe auszuziehen bevor ich hochging.

Ich riss meine Jacke förmlich herunter und ließ sie dann unbeachtet auf meine Schuhe fallen. Ich stapfte die Treppe hoch und drückte seine Türklinke herunter. Und lief gegen seine Tür. Er hatte abgeschlossen. Ich klopfte dagegen. Seine Stimme tönte gedämpft durch die Tür: „Bin beschäftigt." Ich konnte mich einfach nicht mehr zusammenreißen. „Deine Freundin zu ignorieren?" Eine Weile passierte gar nichts und dann hörte ich wie er die Tür langsam aufschloss.

Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust, bereit die ganze schmollende, wütende Freundin-Partie auszuspielen. Aber als ich ihn erblickte, löste sich mein wütender Ausdruck und meine angespannten Arme lockerten sich. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und es sah aus als hätte er geweint. Er trug nur Boxershorts und ein weißes Shirt. Er wirkte verwahrlost und er sah mich beschämt an. Ich schluckte und blieb an Ort und Stelle stehen. „Ist alles okay?" Er öffnete nur die Tür ein Stück mehr und bat mich so hereinzukommen. Er lief zum Bett und ließ sich darauf fallen. Ich trat in sein Zimmer und schloss die Tür hinter mir.

Es war stickig und chaotisch. Die Couch in der Ecke war verschoben wurden und es schien als hätte er einen Teil der Wand angefangen zu bemalen. Ich konnte nicht wirklich erkennen woran er arbeitet und meine Augen wanderten zurück zu ihm. Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu. Ich wartete lieber bis er von sich aus anfing zu reden, denn ich kannte ihn gut genug, dass er das lieber mochte als meine Ausfragerei. Er setzte sich angestrengt auf und sah mich wieder beschämt an.

Ich wusste, ich hatte ihm schon beim ersten Anblick vergeben, aber ich wollte wirklich wissen, was los war. „Ich fühle mich momentan nicht sehr gut." Ich setzte mich vorsichtig neben ihn und musterte ihn besorgt: „Bist du krank?" Er nickte mit dem Kopf, dann schüttelte er ihn gleich wieder. Er sah zur Decke und schien nach Worten zu suchen. Er sagte gepresst: „Mein Kopf hört grade einfach nicht auf zu denken."

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt