„Und du musst Jonathan sein."

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Ich musste ihn während dem Abendessen mit meinem Dad und Prim die ganze Zeit anstarren. Nicht nur, weil er morgen wieder in die Klinik zurück musste, sondern auch weil er strahlte wie früher. Nein wirklich, er lachte und seine Augen strahlten heller als die Kerzen, die auf dem Tisch standen. Er redete mit meinem Dad über seinen Job und mit Prim über ihre Arbeit. Dabei warf er mir immer wieder tiefe Blicke zu und ich wusste nicht ob ich fröhlich oder misstrauisch sein sollte. Wir hatten schon einmal über seine Stimmungsschwankungen geredet und ich wusste, dass sie teilweise auch zu seiner Krankheit gehörten.

Ich schluckte und setzte mein Glas Wasser ab. Ich saß hier mit den Personen die mir am meisten bedeuteten und dachte nur über Noahs Krankheit nach. Aber egal, wie sehr ich versuchte mitzulachen, eine Schwere drückte auf meine Schultern und als mein Dad den Nachtisch servierte, entschuldigte ich mich kurz und huschte ins Bad. Ich stellte mich vor den Spiegel und sah mir tief in die Augen. Ich sah wie sich meine Augen mit Tränen füllten und ich versuchte mich aufrecht zu halten. Aber kurz darauf gaben meine Arme nach und ich brach über dem Waschbecken zusammen.

Ich ließ mich auf den Boden fallen und versuchte während dem Weinen nicht zu schluchzen. Ich spürte die kalte Badewanne in meinem Rücken und stellte mir vor, wie die Kälte durch meine Knochen kroch. Ich wusste nicht wie lange ich dort saß, aber ich zuckte zusammen als ich ein leichtes Klopfen hörte. Ich atmete zittrig ein, strich mir die Tränen weg, spritzte mir kurz kaltes Wasser ins Gesicht und öffnete dann die Tür. Prim brauchte nur einen kurzen Blick auf meine geröteten Wangen werfen und da wusste sie was los war.

Ich war froh, dass sie mich nicht versuchte in den Arm zu nehmen. Sie nahm meine Hand und drückte sie kurz. Ich lächelte leicht und ließ sie dann ins Bad. Ich atmete nochmals tief durch bevor ich wieder an den Tisch zurückkehrte. Mein Dad sah mich kurz besorgt an, widmete sich dann aber wieder Noah. Dieser beachtete mich nicht einmal. Er redete euphorisch über Vögel. Ich blendete die beiden aus und starrte in mein Spiegelbild in der Terrassentür. Vielmehr sah ich durch mich hindurch. Irgendwie tat ich das oft in den letzten Wochen.

Es war ein seltsames Gefühl in einem Flugzeug zu sitzen. Ich hatte die beinahe panische Angst, Noah könnte denken, ich würde vor ihm fliehen. Was ich in einer gewissen, unfreiwilligen Art auch tat. Mein Dad und Prim hatten mich überredet meine Mom besuchen zu gehen. Ich durfte Noah nicht besuchen kommen und Noah hatte nicht geplant bald wieder ein Wochenende zu Hause zu verbringen. Lilian sagte mir, dass er sich momentan ein wenig von seinem Umfeld abschotten wollte, um wirklich herauszufinden, was genau ihn so traurig machte.

Das klang so verdammt frustrierend. Einerseits konnte ich ihn natürlich verstehen, vielleicht redete ich mir auch schön ein, dass ich es zumindest einen Teil weit verstehen konnte, aber andererseits war ich verwirrt. Waren wir, sein Umfeld, der Auslöser dieser Krankheit? Hatte ich irgendetwas falsch gemacht als er letztes Wochenende bei uns gewesen war? Nach dem Essen mit meinem Dad und Prim waren wir noch kurz in meinem Zimmer gewesen und ich hatte ihn zum Bett geführt und mich an seine Brust gekuschelt. Ich konnte es einfach nicht ertragen ihm ins Gesicht zu sehen und jetzt in diesem Moment hasste ich mich dafür. Er hatte mich gehalten bis ich eingeschlafen war, dann war er nach Hause gegangen.

Ich hatte mich verloren und kalt gefühlt als ich aufgewacht war, ohne ihn an meiner Seite. Aber nach einer Weile fühlte es sich beinahe normal an und das war es was mir wirklich Angst gemacht hatte. Ich versuchte meine Angst auf meine Mom zu projizieren. Ich hatte sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen und hatte keine Ahnung wie ich auf sie und ihr neues Leben reagieren würde.

Als ich sie am Ausgang des Gates schon warten sah, sich den Hals reckend nach uns umsehend, musste ich lächeln. Ihre perfekt gemachten Locken wippten aufgeregt umher als sie uns erblickte. Zu meiner Überraschung zog sie zuerst mich in eine warme Umarmung. Sie war kleiner als ich und ich spürte wie sehr sie mich zu ihr runterzog.

Sie roch seltsam vertraut obwohl ich sie schon lange nicht mehr so nah erlebt hatte. Sie legte, nachdem sie sich gelöst hatte, eine Hand an meine Wange. Sie wirkte beinahe aufgelöst: „Danke, dass du hergekommen bist." Ich lächelte nur etwas unsicher. Dann schloss sie Prim in die Arme und ich bemerkte den Kinderwagen, der hinter ihr stand. Dort drin saß ein kleiner Junge, der mich mit braunen Augen aufmerksam musterte. Ich kniete mich vor den Wagen und sagte: „Und du musst Jonathan sein." Jonathan quiekte ein wenig. Ich überließ in einem Moment meinen Zeigefinger.

Er wirkte so winzig und hatte doch so einen starken Griff. Ich drehte mich nun wieder um und fand meine Mom und Prim, wie sie mich liebevoll musterten. Ich spürte meine Wangen brennen und drehte mich weg. Aber ich würde mich vermutlich noch ein Leben lang an Jonathans kleinen, aber doch so starken Griff erinnern. Und seltsamerweise gab er mich mehr Kraft als alles andere.

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt