Ich wusste schon früher, dass dieser Tag kommen würde aber ich weigerte mich. Besser gesagt, mein Körper weigerte sich. Alles in mir sehnte sich danach ihn zu sehen. Nur wäre es mir erheblich lieber, wenn er dabei lebendig wäre. Ich hatte den Überblick verloren, wie vielen Menschen ich schon die Hand geschüttelt hatte. Ich fühlte mich erschöpft und müde. Angst schlich sich durch meine Adern während ich Beileidsaussage über Beileidsaussage entgegennahm. Mein Dad stand standhaft neben mir und manchmal stützte er mich leicht mit einer Hand am Steißbein. Ich war im dankbar dafür.
Ich fühlte mich unglaublich klein und falsch. Ich stand hier in einem hübschen schwarzen Kleid und schüttelte Hände. Das alles war so falsch. Ich hasste dieses Kleid und ich hasste diese Menschen. Ich seufzte. Das war wohl ein wenig übertrieben, was ich damit sagen wollte war, dass ich gerne alleine wäre. Irgendwo weit weg von diesem schrecklichen Ort. Mein Dad legte seine Hand wieder an mein Steißbein: „Es wird langsam Zeit. Ist alles in Ordnung, Schatz?" Mein Lächeln zitterte: „Klar, Dad." Nichts war in Ordnung. Er führte mich sanft zum Eingang der Kirche und ich schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf.
Noah hätte gelacht, wenn er wüsste, dass wir tatsächlich einen Trauergottesdienst für ihn abhielten. Als wir durch den Bogen gegangen waren, befanden wir uns im Vorraum der Kirche. Ein kleiner Gang rechts von meinem Dad führte zum Abschiedsraum. Ich blieb stehen. Da war sie. Die nackte Angst, die mir die Wirbelsäule entlangkroch. Mein Dad sah mich an, er verstand. Er führte mich auf die Seite. Ich versuchte normal zu atmen, stolperte aber über mein Einatmen.
Mein Dad nahm meine Hände und wir atmeten eine Weile gemeinsam. Er strich mit eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich sofort wieder löste: „Du musst da nicht reingehen, Claire." Ich musste nicht. Aber ich schuldete es ihm. Und mir. Ich löste mich sanft von meinem Dad: „Ich glaube, ich möchte kurz alleine mit ihm sein." Ich erkannte meine eigene fragile Stimme nicht. Mein Dad nickte, dann stellte er sich vor den Gang und bat die Nächsten die eintreten wollten darum, kurz zu warten. Ich schob meine Schultern nach hinten und ging durch den Gang. Er war seltsam schmal und ich schlang die Arme um mich selbst.
Ich hörte Stimmen aus dem Raum und schluckte. Als ich in das Zimmer trat, standen noch weitere Leute in dem Raum, sie waren um einen Sarg versammelt, von dem ich bisher nur den aufgeklappten Deckel erkennen konnte. Ich blieb am Eingang des Zimmers stehen und starrte gegen die Decke, sie war voller Lampen, ordentlich in vier Reihen eingeteilt. Ich trat zur Seite und ließ die Leute aus dem Raum. Als ich mir sicher war, dass niemand mehr im Raum war, lief ich ein paar Schritte vorwärts. Ich spürte, wie ich anfing zu zittern und schlang meine Arme fester um mich. Ich orientierte mich an den Lampenreihen und als ich unter der dritten Reihe stand, ließ ich meinen Kopf sinken.
Alle meine Zellen schienen sich zusammenzuziehen. Ich atmete schluchzend ein. Ich stand in der Mitte des Raumes. Und da lag er. Still und wunderschön. Ich stolperte den restlichen Weg zu ihm und stützte mich dann auf den Sarg. Und da lag er. Still und wunderschön. Und doch ähnelte er Noah nicht einmal ansatzweise. Seine Augen waren geschlossen und es lag kein Lächeln auf seinen Lippen. Die Hände lagen ordentlich gefaltet auf seinem Bauch. Hätte ich nicht besser gewusst, dass er seine Pulsadern aufgeschnitten hatte, hätte ich gedacht, er wäre friedlich gestorben. Meine Hand schwebte über seinem Gesicht. „Sieh mich an." Ich schluchzte zitternd: „Bitte." Ich legte sanft eine Hand auf seine Wange. Er war kühl und ich atmete zittrig: „Noah."
In meiner Stimme lag eine fordernde Bitte. Und gleichzeitig eine Entschuldigung. Gott, er war so wunderschön. Mein Blick wanderte zu seinem Hals und ich erblickte seine Kette. Ich strich vorsichtig an ihr entlang Richtung Brust. Dann stoppte ich plötzlich. Ein kleiner Anhänger lag sanft auf seinem Kragen. Ich beugte mich über ihn und als ich erkannte was es darstellte, spürte ich eine angenehme Wärme in meiner Brust. Ich strich vorsichtig über das silberne C und lächelte selig. „Oh Noah." Ich weinte leise und strich ihm immer wieder über die Wange. Ich lehnte mich weit über ihn: „Es tut mir so leid."
Ich flüsterte immer und immer wieder die gleichen Worte vor mir hin. Ich schämte mich so sehr für diese Worte, denn es waren nutzlose Worte. Tränen tropften auf seinen Anzug, aber ich fokussierte mich nur auf seine geschlossenen Augen. Fast konnte ich mir vorstellen, wie sie sich öffneten und mich ansahen. Voller Liebe und Wärme und Emotionen. Ich biss mir auf die Lippe. Ich wusste nicht, wie ich mich von ihm losmachen sollte. Ich wollte stark sein, ich wollte nicht in dieser Traurigkeit versinken, aber es schien so einfach. „Claire?"
Ich drehte meinen Kopf nicht von ihm weg. Ich hörte wie sanft Harper redete: „Der Gottesdienst fängt jetzt an." Ich strich weiter über seine Wange. Ich sah aus dem Augenwinkel wie Harper neben mich trat. Sie legte eine Hand auf meinen ausgestreckten Arm. Dann lehnte sie ihre Stirn gegen meine Schläfe und flüsterte: „Lass ihn los, Claire. Das hier ist nicht mehr Noah." Ihre Worte erschütterten mich bis ins Mark. Ich wollte sie anschreien. Doch als ich mein Blick wieder klar auf Noahs geschlossene Augen fiel, fuhr es mir durch alle Glieder. Sie hatte Recht. Es war genauso wenig Noah wie vor einem Monat.
Ich ließ mich von ihr gestützt aus dem Raum führen. Kurz bevor wir in den Raum traten, stoppte ich Harper. Ich starrte in ihre Augen: „Hab ich irgendetwas falsch gemacht, Harp? Hab ich ihn umgebracht?" Ich wusste nicht, warum ich sie das jetzt genau fragte. Vielleicht hatte ich zu sehr Angst eine ehrliche Antwort zu bekommen. Vielleicht wollte ich keine Antwort. Vielleicht wusste ich die Antwort schon selber, aber es war einfacher sich die Schuld zu geben. Harper sah mich fast verletzt an, sie schien mit den Worten zu kämpfen. Dann reckte sie ihr Kinn in die Höhe und sah mir bestimmt wie eh und je in die Augen: „Du hast nichts anderes getan als ihn zu lieben. Er hat seine eigene Entscheidung getroffen, Claire."
Ich lehnte mich an sie: „Es hat ihm nicht gereicht." Harper stellte mich aufrecht hin und krallte sich in meine Schultern, während sie meine Augen auffing: „Claire, Menschen kann man manchmal nicht verstehen. Jeder hat seine Dämonen, die ihn verarschen und kaputtmachen wollen, okay? Und Noah..." Ihre Stimme brach einen Moment, dann fing sie sich wieder: „Noahs Dämonen haben ihn kaputtgemacht. Er hat gekämpft und gekämpft, aber sie haben ihn weiter gequält bis er angefangen hat ihre Lügengeschichten zu glauben. Und dann konntest nicht einmal du sie vertreiben, weil er selber bemerkte, wie er langsam zu ihresgleichen wurde, okay? Und bevor das vollkommen passieren konnte, hat er sich entschieden, dass es nicht so kommen soll."
Ich sah sie weinend an, ihre Worte bildeten Sätze, aber ich wollte sie nicht verstehen.Noahs Worte schwirrten in meinen Gedanken umher. Die Monster in meinem Inneren kommen immer wieder zum Vorschein, Claire. Harpers Stimme zitterte nun auch, ihre Augen glitzerten voller Tränen: „Gott, Claire, Noah hat dich so geliebt. Er hat dich so unglaublich sehr geliebt. Bis zum letzten Moment. Das musst du mir glauben." Ich nickte abwesend, unsicher ob ich es tat oder nicht. Als wir den Raum betraten, hatte die Orgelmusik schon längst ausgesetzt und der Pfarrer trat hinter das Rednerpult.
Ich lief stumm nach vorne und setzte mich neben Lilian, die sofort nach meiner Hand griff. Ich sah sie verloren an: „Ich hab den Anhänger gesehen." Sie legte eine Hand an meine Wange: „Wir haben ihn heute auch das erste Mal gesehen. Er muss ihn selber noch angelegt haben." Ich spürte meine Lippen zittern, Lilian legte meinen Kopf sanft gegen ihre Brust und gab mir einen Kuss auf den Kopf: „Du warst sein Anker, Claire." Ich starrte die Steine vor mir an. Ich war sein Anker gewesen. Jetzt war ich nur noch ein Anker. Ohne Boot und trotzdem noch fest verankert im Boden. Nutzlos und tief im Wasser versunken.
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"Mach's besser."
RomanceClaire und Noah lernen sich auf simple Art und Weise kennen und verlieben sich ineinander. Die beiden führen ein schönes Leben, Claire als kluge Schülerin und Noah als sportlicher Footballer. Einige Zeit scheint den beiden nichts im Weg zu stehen. D...