„Oh." - „Ja, oh."

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„CJ, isst du das bitte, für mich?" Mein Dad saß auf meiner Bettkante und ich roch den unverkennbaren Geruch seiner Pancakes. Ich lag in Embryostellung im Bett und hatte die Bettdecke über meinen Kopf gezogen. Ich trug Noahs Pulli und wollte darin versinken. Warum musste mein Leben enden bevor es überhaupt richtig angefangen hatte? Ich spürte, wie mein Dad vorsichtig eine Hand auf meine vergrabene Schulter legte. „Ich weiß schon gar nicht mehr wie du aussiehst..." Er versuchte mich ein bisschen spielerisch zu ärgern, aber ich würde nicht darauf eingehen.

Ich sagte leise: „Es ist nicht fair." Ich hörte meinen Dad tief ein und ausatmen: „Das ist es nicht, da hast du Recht." Ich setzte mich abrupt auf und schrie beinahe: „Es ist verdammt noch mal nicht fair!" Dann klappte ich müde zusammen, weil das alleine schon meine gesamte Energie gebraucht hatte. Ich sah meinen Dad an, leise Tränen tropften aus meinen Augen. „Ich hab doch nichts getan, außer ihn zu lieben, Dad. Warum tut er mir so weh?" Er sah mich mit traurigen Augen an: „Vielleicht weil es das Einzige war, was er wirklich kannte. Schmerz." Ich fing an bitterlich zu weinen.

Mein Dad nahm mich in die Arme, aber alles was ich spürte, war meine Hilflosigkeit. Meine Adern schienen blutleer und meine Muskeln schlaff und leblos. Mein Herz schien in meiner Brust gefroren zu sein. Ich schlief beinahe den ganzen Tag und trotzdem war ich müde. Nachdem mein Dad gegangen war, legte ich mich auf den Rücken und sah zu meiner Decke hinauf. Warum, Noah? Warum du? Warum ich? Warum wir? Ich spürte wie meine Augen langsam zufielen und ich fiel in eine unendliche Dunkelheit.

Als ich meine Hand nach dem Türgriff ausstreckte, stockte ich kurz. Ich stand vor dem Hauptgebäude meiner Schule und wusste nicht wie ich die Kraft auffinden sollte, diese Tür aufzustemmen. Hier waren Noahs Anwesenheit und Abwesenheit zu einem vereint, er hatte diese Schule geprägt. Ich hatte die Zeugnisübergabe verpasst. Ehrlichgesagt war ich überhaupt nicht gegangen. Ich wollte nicht sehen, wie die anderen ihre Zukunft starteten, während meine gerade gestorben war.

Mein Dad hatte mich angeboten mein Zeugnis abzuholen, aber seltsamerweise hatte ich mich verpflichtet gefühlt noch einmal hier zu sein. Ich zog meine Schultern nach oben und öffnete die Tür. Stickige Luft kam mir entgegen und die Flure waren leer. Es waren Sommerferien, aber am Ende des Flures stand die Tür zu einem Klassenzimmer auf. Ich wusste von Harper, dass sich das Fotographen-Team immer in den Sommerferien traf um die Dunkelkammer zu nutzen. Ich schenkte den leisen Stimmen, die aus dem Raum kamen, wenig Beachtung und lief langsam den Gang zum Sekretariat hinunter. Ich erschrak, als mich plötzlich jemand von hinten ansprach. „Du bist Claire, stimmt's?"

Ich drehte mich um und sah einen Jungen mit blonden Locken vor mir, er schien einige Jahre jünger als ich zu sein. Ich nickte vorsichtig. Der Junge hatte helle, braune Augen und sie sahen seltsam traurig aus. „Du bist die Freundin von Noah, oder?" Ich sah ihn lange an. Bist. Ich spürte, wie das Wort durch meinen ganzen Körper vibrierte. Ich nickte nochmals. Der Junge lächelte unsicher und sagte: „Ich bin Sam, ich kannte Noah vom Footballtraining. Er hat doch immer zusammen mit Ethan die Jüngeren trainiert, aber irgendwie hat er ja dann aufgehört... Ich hab gehört, ihm geht es nicht besonders gut."

Ich spürte, wie sich meine Brust zusammenschnürte. Ich schüttelte den Kopf: „Nicht besonders gut trifft es ganz gut." Sam wirkte beinahe verlegen: „Wird es ihm denn irgendwann besser gehen? Das Training ist irgendwie nicht das Gleiche ohne ihn." Ich spürte, wie meine Sicht verschwamm, ich sagte gedankenverloren: „Nichts ist das Gleiche ohne ihn." Sam sah mich verwirrt an und ich hatte den Drang ihn anzulügen. Ihm eine sanfte, schöne Lüge aufzutischen, die ihn vor all dem Leid und all dem Schmerz beschützen würde. Aber das wäre falsch. Denn das hier war die Realität. Hier konnte ich nichts romantisieren. Hier würde ich nichts romantisieren.

„Sam, es tut mir leid. Noah hat sich das Leben genommen." Sams Augen wurden groß. Ich strich mir meine Tränen beiseite. Nun wurden Sams Augen traurig, er sah auf den Boden: „Oh." Ich nickte: „Ja, oh." Mein Atem zitterte und ich sah Sam an. Er war noch so jung. Es war schrecklich ihm zu zeigen, was die Welt alles mit einem anstellen konnte. „Es tut mir leid." Ich nickte und legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Mir auch, Sam."

Er wirkte ein wenig überfordert mit der Situation und ich trat einen Schritt zurück. Als er sich umdrehen wollte, sagte ich leise: „Pass bitte auf dich auf, Sam. Die Welt kann freundlich zu dir sein." Er sah mich ein wenig komisch an, schenkte mir dann aber ein tapferes Lächeln. Ich stand eine Weile da und sah ihm nach. Ich wusste nicht, wie viele Leben Noah noch beeinflusst hatte und wie viele sich jetzt fragten, was mit ihm passiert war. Ich wünschte, ich könnte ihn fragen. Aber ich wusste auch, dass ich wahrscheinlich keine Antwort bekommen würde.Ich legte meinen schweren Gang zum Sekretariat fort, um mir ein Stückchen meiner Zukunft abzuholen, die ich überhaupt nicht wollte.

Als ich aus dem Sekretariat heraustrat, fiel mein Blick durch die lange Fensterreihe auf das Footballfeld. Ohne wirklich zu überlegen, setzte sich mein Körper in Gang und ehe ich mich versehen konnte, stand ich auf dem Footballfeld. Es wirkte so riesig und endlos. Ich fühlte mich winzig. Unbedeutend. Und schon wieder erschrak ich als mich jemand von hinten ansprach. „Eine ganze Weile dachte ich, er wird wieder." Ethans Stimme klang verbittert und kurz spürte ich Wut in mir aufblitzen, weil ich an das Café zurückdenken musste. Aber ich wusste auch, dass Ethan nichts für seine Fragen konnte. Wir wollten alle eine Antwort. Ich sah ihn traurig an, es wehte ein leichter Sommerwind. „Eine ganze Weile wünschte ich mir, er wird wieder."

Ethan nickte verständnisvoll. Er sah müde aus. Seine Haltung wirkte gebrechlich und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. „Du fühlst dich schuldig." Er sah mich beinahe ertappt an. Dann presste er kurz seinen Kiefer zusammen und Tränen flossen ihm die Wangen hinunter: „Scheiße, ja, Claire. Wie kann ich das nicht?!" Ich ging einen Schritt auf ihn zu: „Weil wir keine Schuld haben." Er sah mich ersetzt an: „Wie kannst du das sagen?!" Ich wusste es nicht. Wie konnte ich das sagen? Wenn ich mich doch selber irgendwie schuldig fühlte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht." Meine Stimme war ein heiseres Flüstern. Ethan kickte ins Gras: „Ich war ein egoistisches Arschloch, scheiße. Ich hab nicht wirklich versucht bei ihm zu sein. Nicht so wie du." Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was ich sagen sollte. Ich sah zu den Tribünen hoch: „Er sagte mir einmal, dass er sich selbst bei mir einsam fühlte." Ethan sah mich reuevoll an: „Das tut mir leid." Ich nickte.

Und dann lachte ich beinahe wütend. „Gott, warum sagen wir das eigentlich immer es tut mir leid? Scheiße, wir haben doch alle keine Ahnung, was uns eigentlich leid tut." Ich spürte, wie Ethan seine Hand in meine schob. „Weil wir nicht wissen, was wir sonst sagen sollten." Ich sah ihn an. Ich spürte nichts. Eine Leere hatte meine Brust gefüllt und breitete sich jetzt in meinem gesamten Körper aus. „Wir sollten sagen, dass es nicht okay ist. Wir sollten sagen, wie beschissen wir uns alle fühlen. Wir sollten genau darüber reden, wie es passiert ist. Auch wenn wir es nicht verstehen. Wir sollten einfach irgendetwas sagen. Aber es nicht immer verschieben. Es nützt kein Mitleid. Oder hat Mitleid Noah vielleicht gerettet? Wir brauchen Erkenntnis, wir brauchen Akzeptanz. Gott, wie sollen wir über den Tod nachdenken, wenn wir alle nicht mal wissen was es heißt zu leben?"

Ethan sah mich an. Er wirkte verloren. Desorientiert. Ich sagte fast schämend: „Es tut mir leid, dass du deinen besten Freund verloren hast, Ethan. Es tut mir leid, dass wir nichts mehr dagegen tun können. Und vor allem tut es mir leid, dass diese Welt so verdammt unfair zu uns ist. Aber es ist okay. Du kannst dich so zeigen, wie du sein möchtest. Sie wird immer einen Weg finden unfair zu bleiben. Manche können damit wohl einfach besser anfreunden."

Ethan schloss die Augen und ich konnte beinahe spüren, wie etwas in ihm nachgab. Er schluchzte auf und meine Brust schmerzte. Ich drückte seinen Kopf gegen meine Brust und strich vorsichtig über das Beben seines Körpers. Mit seinen dunklen Haaren erinnerte er mich fast an Noah. Und während ich Ethan hielt, presste ich mein Gesicht in seine Haare und stellte mir vor Noah zu halten. Eine Ambivalenz wirbelte in meinem Venen umher und spaltete alles was ihr in den Weg kam. Ich wusste nichts mehr.

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt