„Ich glaube, wir sollten unbedingt mal miteinander reden."

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Heute Nacht liebte er mich anders. Seine Augen waren tiefer, seine Berührungen umfassender und seine Küsse stürmischer. Seltsamerweise liebte ich diesen wilden Noah nur noch mehr. Ich überließ mich meinen Emotionen. Ich weinte, ich lachte und vor allem fühlte ich. All den Schmerz und die Frustration aus den letzten Wochen. All die Stille und all den Lärm der letzten Monate. Und all die Liebe, die immer noch durch meinen gesamten Körper pulsierte.

Als Noah warm und halb auf mir liegend einschlief, lag ich da und starrte an die Decke. Meine Hand kraulte leicht seinen Arm, der über meiner nackten Brust lag. Ich dachte daran, wie stark wir in den letzten Wochen geworden waren. Noah lag hier neben mir und ich konnte das Auf- und Absenken seines Brustkorbes spüren. Ich hatte mich noch nie lebendiger gefühlt. Ich sah zu Noah. Ich wusste nicht, was genau er mit mir anstellte, aber es klappte verdammt gut. Aber auch im Schlaf sah er nicht friedlich aus.

Seine Augenbrauen waren zusammen gezogen und er atmete unregelmäßig. Aber er schlief. Immerhin. Ich würde mich morgen an meinen Laptop setzen und mich über seine Krankheit informieren. Ich musste einfach wissen, wie ich ihm helfen konnte, ohne ihn persönlich zu therapieren. Und einfach nur hier zu sein, war anscheinend leider immer noch nicht gut genug. Mit seinem Atem auf meiner Wange und seinem vertrauten Geruch nach Kaffee und Wacholder schlief ich ein.

Als ich die Augen aufschlug, setzte ich mich panisch auf. Ich suchte mein leeres, chaotisches Bett ab. Noah war verschwunden und für einen kurzen Moment hatte ich die schreckliche Vermutung alles nur geträumt zu haben. Aber dann fiel mir sein Sweatshirt auf meinem Schreibtischstuhl auf. Ich zog mir ein Shirt über meine nackte Haut und tapste zum Schreibtisch.

Ich nahm sein Shirt und drückte mein Gesicht hinein. Kaffee und Wacholder. Ich beschloss insgeheim, es zu behalten, egal ob mich Noah danach fragen würde. Mein Blick wanderte zu einem Stück Papier auf dem Tisch. Er hatte mir eine Nachricht hinterlassen und ich lächelte erleichtert. Vielleicht hatte er das Sweatshirt mit Absicht hier gelassen. Ich nahm das Papier an mich und las die kurzen Zeilen sorgfältig durch. Danke. Du bist mein Anker, Claire. Ich komme zu dir zurück, versprochen. Ich werde nach Hause kommen. Mach's gut, McCoy. Ich lächelte und drückte mir das Papier an die Brust. „Mach's verdammt nochmal besser, Rhodes." Vielleicht fühlte sich so Hoffnung an. Ich hoffte es.

Als ich den Begriff Depressionen in die Suchmaschine eingab, war ich erstmal ein wenig geschockt. Überall fand man Tests und Psychologen und Chaträume, in denen man sich offenbar über seine Probleme austauschen konnte. Ich las mir ein paar ärztliche Berichte durch und ein paar Sachartikel zum Thema Depressionen. Komischerweise fühlte ich mich danach kein Stück weiter. Ich kannte nun sämtliche Symptome, die verunsichernd klar auch auf mich zutreffen könnten.

Ich kannte nun Pillen und Therapieansätze, aber um ehrlich zu sein, wusste ich immer noch überhaupt nichts. Ich wusste nicht, warum Noah sich so verhielt, ich wusste nicht was ich tun konnte, um ihm zu helfen. Fragen Sie nach, aber seien Sie nicht aufdringlich. Na ja, das war eigentlich alles was ich in den letzten Wochen getan hatte. Und nie hatte ich eine Antwort bekommen. Zeigen Sie Ihr Mitgefühl, aber versuchen Sie nicht den Betroffenen zu überfordern. Ich stemmte meinen Kopf in eine Hand. Irgendwie hieß es immer nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Was sollte das bitte heißen?

Zeigen Sie sich als klar erkennbaren Ansprechpartner für den Betroffenen. So langsam starrte ich nur noch auf die Zeilen ohne sie wirklich wahrzunehmen. Behandeln Sie den Betroffenen nicht grundlegend anders weil er an Depressionen erkrankt ist. Versuchen Sie offen ins Gespräch zu kommen. Lassen Sie den Betroffenen von sich aus auf Sie zukommen. Bieten Sie ihre Unterstützung an ohne überfürsorglich zu klingen. Spenden Sie dem Betroffenen stillen Trost. Ermutigen Sie den Betroffenen schlicht nicht aufzugeben. Versuchen Sie nicht mit dem Betroffenen eine Diskussion auszulösen, die in einem Streit enden könnte. Bitte beachten Sie, dass der Umgang mit einem Betroffenen viel Geduld braucht. Lassen Sie dem Betroffenen und auch sich selbst Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen.

Mein Kopf brummte und ich fühlte mich nutzloser als zuvor. Warum konnte es keine klare Anleitung für so etwas geben, wo die möglichen Konsequenzen am besten auch noch dazugeschrieben waren. Ich las mir noch einige Berichte durch, wie Menschen im Umfeld von Betroffenen mit der Situation umgingen und erkannte mich in vielen Aspekten wieder. Man fühlte sich hilflos und nutzlos und wollte unbedingt irgendetwas zur Genesung beitragen. Und unglücklicherweise stieß ich bei den meisten Berichten auf Unklarheit.

Niemand wusste genau, was eigentlichin der Person vor sich her ging. Und diese Unwissenheit war quälend und anstrengend. Ich klappte meinen Laptop zu, weil ich seltsam frustriert war. Ich hatte gedacht, Hoffnung und Zuspruch zu finden und war dann doch letztendlich wieder ganz am Anfang. Vielleicht brauchte jeder einen ganz eigenen Umgangmit der betroffenen Person. Vielleicht war mein Umgang einfach genau richtig. Es waren die ersten positiven Gedanken seit langem. Ich versuchte sie groß über den ganzen Schmerz in meinem Kopf zu schreiben und hoffte, dass sich nicht wieder selbst wegradieren würden. Ich glaubte an Noah. Oder vielleicht wollte ich auch nur an ihn glauben. Ich wusste doch selber nichts.

Ich lehnte mich frustrierend zurück und wusste nicht was ich tun sollte. Theoretisch sollte ich auf meine Abschlussprüfungen lernen, aber wie sollte das bitte geschehen, wenn mein Kopf voller harter Watte war. Jemand klopfte gegen meine Tür und ich setzte mich ertappt auf. Mein Dad steckte sein Kopf durch die Tür und lächelte mich an: „Hier ist jemand für dich." Ich runzelte die Stirn und erwartete, dass er mir gleich das Telefon reichen würde. Stattdessen öffnete er die Tür ein Stück weiter und trat beiseite.

Meine Augen wurden groß und ich sprang auf. „Prim!" Meine Schwester lachte und wir fielen uns in die Arme. Während sie mir den Rücken entlangstrich und ich ihren doch so vertrauten Geruch einatmete, fühlte ich wie meine Fassade bröckelte. Ich spürte wie mir Tränen in die Augen schossen und vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter. Sie hielt mich einfach eine ganze Weile und strich mir behutsam über den Rücken. Ich spürte wie mich der Schmerz und die Frustration überflutete. Unser blöder Streit ließ mich zittern und verbunden mit der Angst um Noah spürte ich zum ersten Mal das volle Gewicht meiner Sorge.

Ich nuschelte stockend, wie Leid es mit tat, aber sie drückte mich nur fester an sich. Nach einer Weile löste ich mich schwer atmend von ihr. Mein Dad hatte uns alleine gelassen und die Tür geschlossen. Prim sah mich liebevoll und doch besorgt an. „Ich glaube, wir sollten unbedingt mal miteinander reden."

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt