„Noah war laut." Ich räusperte mich. „Und nicht im Sinne von laut. Er war präsent. Er war hier. Er hat dich gesehen. Jedes Mal wenn ich einen Raum betreten habe und er war da, dann fühlte ich mich gesehen. Noah sah das in Menschen, was sie unbedingt in sich selbst sehen wollten. Und er hat ihnen den Glauben geschenkt, das tun zu können."
Meine Hände zitterten nun so stark, dass ich sie in den Falten meines Kleides verstecken musste. Der Zettel mit den Worten war sowieso von meinen Tränen gezeichnet. Ich wusste nicht mehr was ich sagen wollte. Die Worte schwallten aus mir heraus. Ich sah Noahs Eltern in der ersten Reihe und fühlte mich dumm. Hier saßen sie bei der Beerdigung ihres einzigen Sohnes und sahen seiner verzweifelten Freundin dabei zu wie sie um Worte rang.
Mein Zettel rutschte mir aus der zittrigen Hand und ich wollte mich schon verwirrt danach bücken, bis ich wieder bemerkte, dass ich ihn nicht brauchte. Ich biss mir auf die Lippe und sah nochmal über die Kirchreihen. Es war eine kleine Kirche, die ausgewölbten Bögen an der Decke schimmerten braun und rot und der Sandstein an den Wänden gab dem Raum eine kühle Atmosphäre. Die Orgel stand auf einer Erhöhung am Eingang der Kirche. Sie war seltsam friedlich und ich blinzelte gegen die Tränen in meinen Augen an, um meinen Blick weiterwandern zu lassen.
Mein Blick flog zu Ethan, seine Schultern hochgezogen und sein Blick leer. Zu Harper, die sich an das Holz der Sitzreihe klammerte. Zu Florence, die sich an Ethans anlehnte und die Augen geschlossen hatte. Ich suchte den Blick unseres Englischlehrers, der neben Florence saß. Coach Fellers Augen waren gerötet, seine Haare lagen platt auf seinem Kopf ohne seine Footballcap. Meine Augen wanderten zu meinem Dad, der mich ermutigten ansah, seine Augen dennoch leer. Dann sah ich zurück zu Noahs Eltern. Lilian sah mich mit festem Blick an, Jay hielt ihre Hand fest umklammert, seine Augen stachen in meine. Ich räusperte mich leise.
Das hier war nicht nur Noahs Geschichte. Es war die seiner Eltern. Es war die seiner Freunde. Es war die von jedem die ihn gekannt hatten. Und es war die von mir. In einer einzigen, kurzen Sekunde traf ich eine Entscheidung.
„Ich weiß, die meisten hier kennen mich wahrscheinlich schon. Für die, die es nicht tun: Ich bin das Mädchen, das tagelang an Noahs Zimmertür gesessen ist. Und um das zu verstehen, muss ich wohl vorne anfangen. Also fangen wir von vorne an. Mein Name ist Claire June McCoy und ich war Noah Rhodes' Freundin. Bis zu dem Moment, wo er sich selbst das Leben genommen hat."
Ich bat Lilian still um Erlaubnis und sie lächelte traurig. „Und ich war, ich bin ein Teil seiner Geschichte. Eigentlich sind wir alle ein Teil seiner Geschichte. Eine Geschichte die mit Dunkelheit getränkt ist und trotzdem Liebe und Wärme ausstrahlt. Wir haben alle in seinem Kampf gekämpft. Und ich würde euch gerne erzählen, wie tapfer, mutig und willensstark Noah bis zum Ende war. Aber das wäre eine Lüge. Denn nicht Noah hat sich umgebracht. Seine Krankheit hat ihn umgebracht. Sie mag zwar ein Teil von ihm gewesen sein, aber es war ein Teil, mit dem man hätte lernen können umzugehen. Ich habe mich lange gefragt, warum ich nur vor Noahs Tür saß. Warum er mich nicht reingelassen hat. Mich hat bei ihm sein lassen. Ich weiß noch immer nicht, ob ich eine Antwort gefunden habe. Aber ich mag den Gedanken meiner Antwort. Noah wollte uns nicht in seinem Kampf. Denn Noah liebte uns. Bedingungslos. Und das ist die Eigenschaft, die er bis zum Ende beibehalten hat. Liebe. Und genau das macht ihn zum stärksten Kämpfer von uns allen."
Ich fühlte mich seltsam entblößt und nackt, aber ich wusste, dass ich nun nicht aufhören konnte. „Ich stehe jetzt vor euch und sage euch, dass ich ihn liebe. Aber es gab Momente wo ich in meinem Bett lag und nichts mehr gehört habe außer meinen eigenen Schluchzern. Ich zweifelte an meiner Liebe zu Noah und ich zweifelte an Noahs Liebe zu mir. Das macht die Krankheit mit Absicht. Sie verarscht dich solange bis du eigenständig aufgibst, als sei alles deine Schuld. Es ist schwer zu verstehen, warum Noah von uns gehen wollte. Aber eine gute Freundin hat mir in den Kopf gesetzt, dass er uns beschützen wollte. Vor dem was er vielleicht einmal werden wird. Ich finde das ist eine tröstliche Vorstellung. Und momentan gibt es nicht viele dieser Vorstellungen. Noah war so gut. So pur. So ehrlich. Es gibt keine Sekunde in der er mir nicht fehlt. Es gibt keine Sekunde in der ich mich nicht frage warum. Es gibt keine Sekunde in der nicht alles wehtut. Aber vielleicht verstehen wir ihn so ein Stück weit besser. All dieser Schmerz, all diese Gedanken. Und die Wut. Ja, die Wut. Ich war so wütend auf ihn, das könnt ihr fast nicht glauben. Alles was ich tun wollte, war ihn anzuschreien. Mich anzuschreien. Eine ganze Menge andere Leute anzuschreien. Aber es würde nichts bringen. Noah ist fort. Weil er nicht mit dieser unfairen Welt umgehen konnte. Meine Mom sagte mir einmal, dass sie ehrfürchtig auf meine Generation schaut. Weil wir so viel Schmerz in uns tragen. Und weil wir so viel Schmerz auf uns nehmen. Vielleicht hat Noah nun keine Schmerzen mehr. Aber ich weiß, dass wir nun alle mit diesen Schmerzen umgehen müssen. Und bitte, bitte, redet darüber. Lasst die Welt euren Schmerz fühlen, bis ihr das Gefühl habt, sie würde euch hören. Denn Noah ist nicht der Einzige, der das Gefühl hatte mit seinen Schmerzen alleine zu sein."
Es schien als würde die Zeit still stehen. Kaum jemand regte sich, alle sahen mich an. Ich meinte fast die Tränen zu hören, die ihre Bahnen über Wangen zogen. Ich spürte die Kälte, die Wärme, die Sehnsucht in diesem Raum. Ich wollte ihn nicht loslassen. Ich wollte nicht aussprechen, was Wirklichkeit war. Und hier stand ich und es floss von meinen Lippen als hätte ich es schon längst gewusst. Ich atmete zittrig durch, schmeckte meine salzigen Tränen auf den Lippen und erinnerte mich an den Geschmack seiner. Ich glaubte mir.
Und ich weiß, das hatte ich Noah zu verdanken. Ich hatte beinahe alle Freundschaften und Begegnungen in dieser Kirche Noah zu verdanken. Noah hinterließ die schönsten Spuren, die sich wie eine sanfte Magie über mein Herz legten. Ich hob meine Schultern und meine Augen fokussierten sich auf jeden einzelnen in dieser Kirche. „Noah mag zwar nun fort sein. Aber ich weiß, dass ich ihn immer und immer wiedererkennen kann. Ich sehe ihn in allen von euch. Weil ihr ein Teil seiner Geschichte gewesen seid. Weil wir zu Noah gehörten. Weil wir von Noah geliebt wurden. Weil wir Noah lieben."
Ich schaute auf den Sarg neben mich. Er lag dort. Alleine und doch nicht alleine. Wir waren alle bei ihm. Wir gehörten zu ihm. Ich sagte mit rauchiger Stimme: „Mach's gut, Noah." Meine Brust fühlte sich unendlich schwer an. Ich hörte in meinem Kopf das Echo seiner Stimme. Mach's besser. Ich hoffte, es irgendwann einmal besser zu machen. Ich nickte kurz. Dann lief ich auf wackeligen Beinen die paar Stufen zu meiner Reihe hinunter. Ich fühlte mich nicht erleichtert. Aber ich fühlte mich weniger alleine. Bevor ich mich setzte, stand Jay auf und nahm mich in die Arme. Er drückte kräftig zu und ich schluchzte zittrig.
Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr: „Danke, Claire. Danke." Ich drückte mich gegen seine Brust. Ich musste mich bei ihm bedanken. Er hatte mir das schönste Geschenk der Welt gemacht. Als er sich löste, sah ich zu ihm hinauf. Seine grünen Augen glitzerten mit Tränen und ich spürte die unendliche Sehnsucht in mir. Als ich mich gesetzt hatte, küsste mich Lilian auf den Kopf, ich spürte ihre Dankbarkeit durch mich fließen. Ich legte wieder meinen Kopf auf ihre Schulter. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie Noah auf dem Altar saß und mich musterte. Sein Blick voller Liebe und Stolz. Ich presste meine Hand gegen meine Brust um die Schmerzen in meinem Herzen zu unterdrücken.
Ich malte sein Bild vor meinen Augen. Seine strahlenden, magischen Augen. Seine kleine Nase, sein schiefes Grinsen, das kleine Grübchen am Kinn. Ich wollte meine Hand nach ihm ausstrecken. Ihm sagen, dass es okay ist. Dass wir vielleicht eines Tages klarkommen. Dass wir vielleicht eines Tages lächeln könnten, wenn sein Name fiel. Dass wir es alle besser machen würden. Aber ich blieb stumm. Seine Momentaufnahmen schossen vor meinen Augen umher, bildeten ein Gesamtbild seines Seins. Alles was ich verloren hatte. Und alles was ich geliebt habe. Und noch immer liebte. Ich versuchte mich dem warmen Gefühl meiner Liebe zu übergeben. Und vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber meine Brust wurde ein klein wenig leichter.
DU LIEST GERADE
"Mach's besser."
RomanceClaire und Noah lernen sich auf simple Art und Weise kennen und verlieben sich ineinander. Die beiden führen ein schönes Leben, Claire als kluge Schülerin und Noah als sportlicher Footballer. Einige Zeit scheint den beiden nichts im Weg zu stehen. D...