„Harp, ich hab solche Angst um ihn."

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Harper tippte mich mit einem Stift an. Es war unsere letzte Woche in der Schule und alle waren seltsam nervös. Außer ich. Ich war ängstlich, innerlich total aufgewühlt und kraftlos. Ich sah Harper an. „Hast du diese Woche schon was von Noah gehört?" Ich erinnerte mich nur vage an die letzten zwei Wochen. Ich hatte ein langes Gespräch mit Lilian und Jay gehabt und dann nochmal eins mit Harper, meinem Dad und Prim. Ich wusste ehrlich gesagt nicht was ich ihnen gesagt hatte. Hatte ich gesagt, dass Noah mit mir Schluss gemacht hatte und ich mich weigerte es zu akzeptieren? Hatte ich ihnen gesagt, dass wir beide beschlossen haben, dass es im Moment besser wäre, nur Freunde zu sein? Hatte ich ihnen erzählt, dass ich das Gefühl hatte, ihn für immer verloren zu haben und mit dem Gedanken einfach nicht leben konnte?

Ich wusste es nicht. Vielleicht eine Kombination aus allem. Ich wusste nur, dass ich jeden Tag vor seiner Tür saß und leise seinen Zeichengeräuschen lauschte. Dass ich immer wieder aufsprang, wenn er durch sein Zimmer lief. Dass ich noch immer mit einem Teller Brotzeit vor der Tür auf ihn wartete. Du musst wissen, dass ich dich einfach loslassen muss. Ich muss einfach. Ich rief jeden Morgen Jay oder Lilian an nur um zu fragen, ob es ein Lebenszeichen von ihm gegeben hatte. Aber seit einer Woche war ich nicht mehr vor seiner Tür gesessen. Es war meine Entscheidung gewesen, weil ich das Gefühl hatte, ihm mit meiner Anwesenheit unter Druck zu setzen.

Ich wusste einfach nicht wie es weitergehen würde. Seitdem er mir gesagt hatte, dass er mich loslassen müsste, war ich noch verwirrter. Ich konnte mir einfach nicht zusammenreimen was er damit gemeint hatte. Und gleichzeitig hatte ich wahnsinnige Angst. Ich hatte Angst, dass er sich wohlmöglich etwas antun würde. Ich konnte das Wort nicht einmal denken. Das würde er nicht tun. Noah würde nicht einfach seine Eltern zurücklassen. Mich zurücklassen. Das Leben zurücklassen.

„Claire, ist alles in Ordnung? Du weinst." Ich starrte Harper an und fasste mir vorsichtig an die Wange. Als ich meine glänzenden Finger sah, sah ich wieder zu Harper. Sie sah mich traurig an und legte dann eine Hand auf meinen Arm. Ich glaube, sie hatte schon jegliche Wörter verloren. Ich sagte leise: „Ich sollte bei ihm sein. Jetzt gerade." Harper seufzte. Sie hatte diese Konversation in den letzten Tagen oft mit mir geführt. „Claire, so leid es mir tut und so sehr es dir wehtut, Noah hat sich entschieden. Er braucht Abstand. Vielleicht machst du dir es einfacher, wenn du es akzeptieren würdest." Ich schüttelte den Kopf: „Harp, ich hab solche Angst um ihn." Harper sah nun genauso zerbrochen, wie mein Spiegelbild jeden Morgen im Badezimmer, aus. „Das haben wir alle. Wir zeigen es vielleicht nicht. Aber Noahs Abwesenheit spürt man überall." Ich nickte leicht. Sie hatte Recht.

Vielleicht zeigte sich die Sorge der Mitschüler in den Blicken, die sie mir im Gang zuwarfen. Noah hatte es geschafft einfach plötzlich aus ihren Leben zu verschwinden. Ich wusste nicht, was sie wussten. Ob sie glaubten, Noah sei weggezogen oder vielleicht auf eine andere Schule gewechselt. Ich wusste, dass nur wenige wussten, was wirklich vor sich ging. Der Coach, ein paar Jungs aus dem Footballteam. Ein, zwei weitere, die es über Florence oder Olive herausgefunden hatten. Ich presste meine Hand gegen meine schmerzende Brust. Ich wusste nicht, wie man diesen Schmerz in meiner Brust noch übertreffen könnte.

Ich ließ meine Tasche von den Schultern gleiten und schlüpfte aus meinen Schuhen. Ich warf während dem Laufen einen kurzen Blick auf mein Handy, war aber nicht allzu überrascht keine Nachricht von ihm erhalten zu haben. Ich seufzte und fühlte mich beinahe noch leerer als zuvor. Das letzte Mal, dass ich von ihm gehört hatte, war unsere Trennung gewesen. Falls ich es als eine bezeichnen wollte. Ich hatte Lilian nach der Schule getextet. Er war in seinem Zimmer und kam nicht heraus. In diesem Moment beschloss ich heute zu ihm zu fahren.

Ich wusste nicht, was mich genau leitetet, aber ich hatte das Bedürfnis vor seiner Tür sitzen zu müssen. Ich musste einfach wissen, dass er da war. Ich steckte mein Handy in die Hosentasche und band meine Haare zurück. Als ich durch die Küchentür kam, saß mein Dad auf dem Sofa, das Telefon in einer Hand, seinen Kopf in der anderen, gestützt auf sein Knie. Eine eiserne Kälte rann meine Wirbelsäule entlang. „Dad?" Ich wagte es nicht weiterzudenken. Als er meine Stimme hörte, zuckte er zusammen. Ich hatte ihn noch nie so verängstigt gesehen. Er sah so verloren und hilflos aus. Mein Dad winkte mich schwach zu sich, aber ich bewegte mich nicht von der Stelle. Mein Kopf stand still.

Er stand auf, ließ das Telefon achtlos auf den Boden fallen. Seine Stimme war fahl: „Es tut mir so leid, CJ." Mein Blut gefror zu Eis, meine Stimme war nur ein leises Zischen: „Was tut dir leid, Dad?" Er schüttelte den Kopf, Tränen quollen aus seinen Augen. Ich hatte meinen Dad erst einmal weinen sehen. Und das war als Mom ihn verlassen hatte. „Noah." Ich hob so schnell die Hand, dass ich es fast nicht selber bemerkte. „Stopp."

Ich wollte nicht hören, was er zu sagen hatte. Ich wollte nicht. Mein Kopf weigerte sich. Mein Dad kam ein paar Schritte auf mich zu: „Jay hat mich gerade angerufen." Ich starrte ihn an, unfähig an irgendetwas zu denken. „Claire... Noah hat..." Seine Stimme brach, ich stand noch immer festgefroren an der Stelle. Mein Hals schnürte sich langsam zu und ich atmete zittrig ein und aus. Mein Dad stand nun vor mir. „Claire." Ich zwang mich in seine Augen zu sehen. „Noah hat sich das Leben genommen."

Für einen Moment hörte ich nur ein Fiepen. Die Welt schien still zu stehen. Die Ruhe vor dem Sturm. Meine kleine Welt, friedlich und still. Und plötzlich krachte eine Welle aus dem Nichts, die sich in einen Tsunami verwandelte. Alles wurde überflutet. Alles fiel in sich zusammen. Buchstäblich alles. Ich sah wie meine Welt immer und immer kleiner wurde bis sie sich selbst auflöste.

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt