„Lebendig."

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Noah würde nach Hause kommen. Ich saß auf dem Sofa der Rhodes-Familie und sah Lilian hoffnungsvoll an. Sie wirkte müde und ausgelaugt, aber auch sie schien wieder ein wenig mehr zu leuchten als sonst. „Mein Baby kommt nach Hause." Ich umarmte sie lachend und als Jay durch die Tür kam, nahm ich ihn auch noch in die Arme. Er drückte mich an sich und sah mir dann fest in die Augen: „Du bist ein Geschenk, Claire."

Ich schüttelte leicht den Kopf: „Nein, Noah ist mein Geschenk." Ich fühlte mich bei ihnen nicht mehr befangen über Noah zu reden. Sie wussten, wie viel er mir bedeutete und ich hatte nicht vor ein Geheimnis daraus zu machen. Ich hatte gerade erst meine Prüfungen geschrieben und ich musste zugeben, dass mir das Lernen ein wenig geholfen hatte nicht die ganze Zeit in Frustration und Sorge zu versinken. Ich würde wohl nicht ganz mein Traumnotendurchschnitt erzielen, aber das war mir vollkommen egal. Alles was gerade für mich zählte war Noah. Ihn wiederzusehen. Ihn zu küssen. Ihn zu berühren.

Ich wartete im Wohnzimmer der Rhodes, während Lilian und Jay zur Klinik fuhren. Ich wusste sie würden eine Weile brauchen und sie hatten mir angeboten noch einmal nach Hause zu gehen, aber ich mochte das Haus der Rhodes. Ich spürte Noah in jedem noch so kleinen Winkel. Überall hingen kleine Fetzen von ihm. Ich starrte auf den Baum der in der Dämmerung schon zu leuchten begann. Ich fühlte mich friedlich und ich versuchte mir das Gefühl aufzubewahren. Nach einer Stunde war es beinahe dunkel geworden und ich schnappte mir meine Jacke und lief in den Garten hinaus. Ich setzte mich auf die Hollywoodschaukel unter dem Baum und stellte mir vor wie Noah hier als Kind herumgesprungen war und warum ich ihn noch nicht früher kennengelernt hatte. Es war ein warmer Frühsommertag und ich legte meine Strickjacke ab.

Ich hatte ein lockeres, schwarzes Sommerkleid an, das sanft um meine Schenkel wehte. Ich stand auf und legte meine Hand auf den massiven Stamm des Baumes. Ich spürte förmlich wie kraftvoll er war. Als ich ein Auto ankommen hörte, stand ich noch immer mit der Hand gegen die Rinde gedrückt, da. Ich drehte mich um und lief ein paar unbeholfene Schritte nach vorne. Ich sah drei Gestalten aus dem Wagen steigen und als ich Noahs Silhouette ausmachen konnte, schlug mein Herz schneller.

Er schien in meine Richtung zu starren und als er loslief, blieb ich einfach stehen. Als er näher kam, sah ich, dass er seine Haare ein wenig geschnitten hatte. Er wirkte ein wenig dünner aber seine Züge waren unverändert. Wir standen voreinander und ich spürte die Spannung zwischen uns. In seinen Augen leuchtete die Lichterkette vom Baum. Er sah einmal an mir hinab und wieder hinauf. Dann schüttelte er den Kopf: „Gott, du bist..." Bevor er fortfahren konnte, hatte ich schon meine Lippen auf seine gepresst. Ich schmeckte Tränen, wusste aber nicht zu wem sie gehörten. Es war mir egal. Ich schmeckte, berührte und roch ihn und das alles zur gleichen Zeit. Ein altes Gefühl schien in meiner Brust zu explodieren und ich zog ihn noch dichter an mich heran. Er war Zuhause. Und ich war es endlich auch.

Wir saßen zusammen auf der Hollywoodschaukel. Ich ließ meine Beine über seinen Oberschenkel baumeln und lehnte mit dem Kopf an seiner Schulter. Ich stützte mein Kinn auf seine Schulter und sah ihn von der Seite her an. Ich spielte ein wenig mit der Kette seiner Oma herum und als ich ihn gerade etwas fragen wollte, sagte er: „Menschen sind wie Maschinen." Ich sah fragen an und er lachte leicht säuerlich: „Ich hab ein gesamtes Buch über einen Typen gelesen, der beweisen will, dass wir alle Maschinen seien." Ich wusste nicht warum er jetzt genau darüber reden wollte, aber ich freute mich, dass er überhaupt reden wollte. „Und du kannst ihn nicht nachvollziehen?" Noah knete meine Hand ein wenig: „Kein Stück."

Ich erwartete, dass er seine These noch erläutern würde, aber er starrte stumm geradeaus. Ich hatte Angst ihn wieder in seinen Gedanken zu verlieren. „Na ja, wir sind in manchen Hinsichten eben schon triebgesteuert. Wenn er das meint..." Ich hoffte, dass mein Impuls ihn aus seiner Starre reißen konnte. Er starrte nun zum Haus. Seine Eltern saßen gemeinsam auf dem Sofa und man konnte vage ihre Köpfe erkennen. „Denkst du es gibt dann auch kaputte Maschinen?" Ich war verwirrt, weil ich nicht ganz verstand wo sein Standpunkt lag, aber ich ging darauf ein: „Na ja, eigentlich bestimmen wir doch selber über unsere Maschine. Warum sollten wir sie kaputt machen?"

Ich hatte Angst, einen wunden Punkt getroffen zu haben, aber Noah sah mir in die Augen. „Ich glaube, ich mache mich kaputt. Weil nichts funktioniert, selbst wenn ich auf die richtigen Knöpfe drücke..." Ich sah ihn schmerzvoll an: „Aber du musst dich nicht kaputt machen, Noah. Es gibt dazu keinen Grund." Aber was wusste ich schon ehrlichgesagt. Überhaupt nichts. Ich wusste rein gar nichts. Und aus meiner Ahnungslosigkeit heraus fragte ich ohne nachzudenken: „Was ist dein Grund?" Er sah mich an, scheinbar überrascht über meine Frage: „Das hast du mich noch nie gefragt." Ich nickte leicht: „Ich wollte, dass du dich entscheidest es mir zu erzählen." Er sah mir lange in die Augen und ich schoss eine Momentaufnahme von ihm. Er sah so vertraut aus. So friedlich.

Sein Blick löste sich und er sah auf unsere verschlungenen Hände. „Ich fühle mich falsch. So als ob ich nicht hier hin gehöre. Da ist so eine komische Leere in mir obwohl ich mich so schwer fühle." Ich war seltsamerweise immer noch ratlos. „Aber was ist der Grund dafür?" Sein Schulterzucken wirkte kränklich: „Ich kann es dir nicht sagen, weil ich es selber nicht wirklich weiß." Ich biss meinen Kiefer zusammen, um meine Wut zu unterdrücken. Ich hatte gehofft irgendwie ein wenig zu verstehen, warum es Noah so schlecht ging, aber alles was ich wusste war, dass es ihm schlecht ging.

Ich spürte seine Lippen an meiner Schläfe und dann flüsterte er: „Es tut mir leid. Ich weiß, es ist schwierig mit mir. Und ich habe es in den letzten Wochen zu wenig gesagt: Danke." Ich drückte meinen Kopf gegen seinen. Er redete weiter: „Ich bin nicht einfach zu lieben. Und du verdienst eine Liebe, die so bedingungslos ist wie deine." Ich schloss meine Augen und spürte mein Herz zittern. Bei seinen nächsten Worten gefror es. „Und deshalb muss ich mich von dir trennen."

Ich rutschte ein Stück von ihm weg: „Wie bitte?!" Er sah mich mit traurigen Augen an, aber sie sahen anders aus als sonst. Zersplittert, verwirrt. „Ich trenne mich von dir, Claire." Ich sah ihn fassungslos an: „Kann ich dazu auch was sagen?" Er schüttelte den Kopf: „Es ist besser so, glaub mir, für dich." Ich spürte die Wut durch meine Adern rennen: „Für mich?! Noah, ich liebe dich. Du machst mich glücklich..." Er unterbrach mich: „Und gleichzeitig todtraurig." Mein Mund bewegte sich, aber ich schien keine Worte zu finden. Er lächelte traurig wissend. Jetzt schüttelte ich den Kopf: „Das ist was dich kaputt macht." Er sah mich durchdinglich an. Ich zeigte zwischen uns beiden hin und her. „Das hier ist gut. Das was wir haben, ist gut. Und du stößt es weg. Mit der Aussage, es sei besser für mich. Wenn du alles, was dir wenigstens ein bisschen Licht bringt, aus deinem Leben schmeißt, wie soll es da nicht komplett dunkel sein?"

Sein Kiefer arbeitete und er drehte seinen Kopf weg. Ich fühlte mich leer. Passierte das hier gerade wirklich? Ich stand auf und sah zu ihm hin. Hoffte, dass er sich zu mir drehen würde und mir sagen würde, dass das alles ein Scherz war. Aber er starrte demonstrativ auf den Boden zu seiner Seite. Ich nickte wissend. Dann drehte ich mich um und lief über den Rasen in Richtung Auffahrt. Und dann blieb ich abrupt stehen.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und schnaufte kurz ein paar Mal. Dann drehte ich mich um und stierte zu ihm zurück. Ich schüttelte wütend meinen Kopf und als ich bei ihm angekommen war, schmiss ich mich beinahe rittlings auf seinen Schoß und küsste ihn. Zuerst war er zu perplex um zu reagieren, aber dann schlang er seine Arme um meine Taille und zog mich noch näher an sich.

Seine Hände wanderten meinen Rücken entlang und ich hielt sein Gesicht in meinen Händen. Unsere Lippen spielten eine harmonische Symphonie und unser Körper was das gesamte Orchester. Als ich mich atemlos von ihm löste, presste ich meine Stirn gegen seine. „Wie fühlst du dich?" Seine Augen strahlten und berührten mein Herz: „Lebendig." Ich nickte leicht: „Ich kann nicht einfach hinnehmen, dass du mich aus deinem Leben schmeißen willst, weil du mich glücklich machst. Selbst, wenn du gerade selbst nicht glücklich bist. Du bedeutest mir zu viel, um einfach aufzugeben. Und ich weiß, dass ich dir mindestens genauso viel bedeute, weil du nie, noch nie, wirklich nie, auch eine Chance verpasst hast, um es mir zu zeigen. Also lass mich bleiben. Bitte."

Meine Stimme zitterte heftig und er strich mir mit dem Daumen sanft über die Wange. „Ich kann dir nicht versprechen, dich komplett hineinzulassen. Aber du darfst bleiben. Scheiße, was wäre ich für ein Idiot, jemanden wie dich gehen zu lassen? Es tut mir leid, Claire. So unendlich leid." Ich presste meine Lippen wieder auf seine. Ich wollte uns spielen fühlen.

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt