„Hat er einen Abschiedsbrief geschrieben?"

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Alles in mir tat weh. Und gleichzeitig fühlte ich überhaupt nichts. Ich hatte meine Arme eng um meinen eigenen Oberkörper geschlungen. Ich krallte meine Finger in den Stoff seines Pullis. Die Sonne, die mir hell ins Gesicht strahlte, schien surreal. Ich starrte in den großen Garten auf die Holzbank unter der kleinen Eiche. Ich wollte mich erinnern, aber irgendetwas in meinem Kopf blockierte meine Erinnerungen, ich wusste nicht ob es mir half oder alles noch viel schlimmer machte. Alleine hier zu stehen, schien mir zu grotesk um wahr zu sein. Ich hatte mich noch einmal übergeben müssen, als ich die Treppen hinaufgelaufen war.

Seit Noahs Selbstmord waren nun drei Wochen vergangen. Für mich fühlte es sich an als wäre es drei Stunden gewesen. Der Schmerz wurde und wurde einfach nicht besser. Ich hatte nicht lange gebraucht um das Wort Selbstmord zu akzeptieren. Noah hatte sich schleichend umgebracht. Ich krümmte mich zusammen. Ich sollte hier sein um Noah zu sehen. Und nicht seinen Anwalt. Lilian hatte mich vor ein paar Tagen angerufen um mir zu sagen, dass sie mich gerne dabei haben wollten. Ich hatte nur zugesagt, weil Jay und Lilian wahrscheinlich die Einzigen waren, die meinen Schmerz wirklich verstanden. Obwohl ich ihn eigentlich selbst nicht verstand. Die meiste Zeit verzerrte ich meine Realität. Und seltsamerweise schmerzte es dann nur noch mehr.

Als mich jemand an der Schulter berührte, zuckte ich nur verzögert zusammen. Alles schien seltsam vernebelt. Lilian sah mich aus blauen Augen an, ihr Blick war sanft: „Wir würden dann jetzt anfangen. Brauchst du noch einen Moment?" Ich versuchte mich an einem Lächeln, scheiterte aber kläglich. Ich schüttelte den Kopf und unterdrückte die Protestschreie in meinem Kopf. Ich folgte ihr an den Esstisch und als ich Noahs Anwalt sah, wie er dort einfach saß in seinem schicken Anzug, wurde mir übel. Ich schluckte und setzte mich leicht resigniert hin, die Hände legte ich offen auf den Tisch.

Ich schaffte es nicht zu Jay zu sehen. Denn ich weiß, dass mich seine Augen an seinen Sohn erinnern würden. Und so sehr ich das eigentlich auch wollte, jetzt war wohl nicht der passende Zeitpunkt Erinnerungen heraufzubeschwören. Ich sah hilflos dabei zu, wie Jay sanft seine Hand auf meine legte, kurz zudrückte und sich dann wieder zurückzog. Ich verhielt mich lächerlich. Die beiden hatten gerade ihren einzigen Sohn verloren und ich saß hier und machte den Eindruck als würde ich nicht hier sein wollen. Was tatsächlich und leider auch der Wahrheit entsprach. Es gab nur eine einzige Person bei der ich gerade sein wollte.

Der Anwalt fing meine suchenden Augen auf: „Hallo, Ms. McCoy, ich bin..." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: „Claire, bitte." Er nickte höflich: „Na dann, Claire. Ich bin Nolan, ein guter Freund von dieser Familie." Er sah kurz zwischen uns her und lächelte sanft: „Na ja, von eurer Familie." Ich wusste, er wollte mich trösten, aber alles was ich zustande bekam, war ein Nicken. Er fuhr fort: „Noahs Eltern haben vor einigen Jahren, zusammen mit Noah ein Testament aufgesetzt. Kein Fertiges natürlich, Noah war es selbst überlassen, Dinge hinzuzufügen und es nach und nach zu vervollständigen. Das letzte Mal wo er etwas dazu fügte, war vor drei Wochen gewesen." Ich spürte, wie ich anfing zu zittern und riss meine Hände vom Tisch. Vor drei Wochen hatte ich ihn noch gesehen. Und das fast jeden Tag.

Schuldgefühle krochen in mir auf: „Hat er einen Abschiedsbrief geschrieben?" Nolan sah mich mitleidig an und da kannte ich die Antwort schon. Ich nickte resigniert und biss mir auf die Lippe. Nolan redete weiter, doch ich hörte seine Stimme nur noch gedämpft. Meine Brust schmerzte und alles was ich momentan tun wollte, war in mein Bett zu kriechen und mich zusammenzurollen. Ich wollte nicht daran zweifeln, aber seit dem Moment in dem ich erfahren habe, dass er tot war, schlichen sich Zweifel in meinen Kopf. Hatte mich Noah überhaupt geliebt? Oder waren all diese Konversationen und Liebesbekenntnisse leere Worte gewesen?

Ich wurde von Nolan unterbrochen: „Claire, hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?" Ich sah ihn verloren an: „Entschuldige." Er lächelte traurig: „Schon in Ordnung. Ich habe von Noahs Kette gesprochen." Ich sah ihn fragend an. Nolan räusperte sich: „Seine Bitte war es, sie dir zu schenken." Ich schnappte nach Luft und krallte mich an den Stuhl: „Sie haben sie aber nicht dabei oder?" Es war als hätte man ein Stück von ihm abgerissen. Nolan sah alarmiert auf meine angespannten Schultern und hob beruhigend die Arme: „Nein, nein, sie liegt bei seinen persönlichen Sachen. Ich wollte dich nur fragen, ob du sie annehmen möchtest?"

Meine Augen huschten hektisch über den Tisch, kurz zu Jay und dann zu Lilian. Sie sah so unendlich traurig aus, dass ich mir schon wieder lächerlich vorkam. Ich wusste, dass es dämlich war ein solches Theater über eine Kette zu machen, aber es war als würde jemand anderes meinen Körper steuern. Ich versuchte an etwas Luft zu kommen und schüttelte dann den Kopf: „Nein, möchte ich nicht." Ich hörte mich an wie ein trotziges Kleinkind. Nolan wirkte überrascht und ich fügte leise hinzu: „Das ist sein Glücksbringer. Er braucht ihn vielleicht noch."

Ich schlang wieder meine Arme um mich und starrte auf den Tisch. Als Jay diesmal seine Hand auf meinen Arm legte, sah ich zu ihm auf. Auch er hatte dunkle Ringe unter den Augen, aber seine Augen waren hell und klar. Ich wollte in ihnen versinken, doch es geschah nichts. Ich ließ meinen Blick wieder zur Tischmitte fallen und ließ ihn dort für den Rest des Gesprächs. Als Nolan aufstand, tat ich es ihm mechanisch nach. Er gab mir die Hand und legte eine warme Hand auf meine Schultern: „Es tut mir leid, Claire. Und ich weiß, es gibt wohl keine passenden Worte um deinen Schmerz auch nur ein klein wenig zu mindern, aber... sei mutig, okay?" Es war ein seltsamer Rat, aber ich spürte, wie ich ihn wertschätzte.

Ich versuchte ihm mein bestes Lächeln zu schenken, aber ich war froh als er über die Türschwelle getreten war. Ich spürte wieder Lilians Hand auf meiner Schulter: „Möchtest du in sein Zimmer?" Wollte ich in sein Zimmer? Ich nickte ohne mich wirklich entschieden zu haben. Lilian drückte meine Schulter: „Wir lassen dich ein bisschen alleine. Wir sind im Wohnzimmer, wenn du uns brauchst, dein Dad wird auch bald da sein." „Okay."

Lilian ließ mich im Flur stehen und ich starrte die erste Treppenstufe an, die zu seiner kleinen Welt führte. Jetzt wohl eine Welt ohne ihn. Ich wusste nicht, ob ich noch eine ertragen konnte. Ohne ihn schien alles viel leiser. Aber nicht die beruhigende Ruhe, die ich in seiner Anwesenheit gespürt hatte. Oder die liebevolle Stille, die sich ausgebreitet hatte, wenn wir „Ich liebe dich" gesagt hatten. Es war eine tote Stille. Ohne jegliche Harmonie oder Atmosphäre. Kein Echo. Ein großes, stilles, leeres Nichts. Das Beinanheben wurde zu einem einzigen Kraftaufwand, jede weitere Stufe die ich erklimm. Als ich oben im Flur angekommen war, strich ich vorsichtig über die Delle an der Ecke der Wand.

Ich versuchte sein Lachen zu projizieren, als wir mit seiner Matratze die Treppen heruntergerutscht waren und am nächsten Tag überall blaue Flecken hatten. Aber alles was ich sah, war ein verblasstes Bild, sein Lachen blieb stumm. Ich trat vor seine Tür. Stellte mich genauso hin wie ich fast jeden Tag hier gestanden hatte. Dann ließ ich mich an der Wand daneben hinuntergleiten und lehnte mein Kopf gegen die Tür. Wenn ich meine Augen fest schloss, vielleicht würde ich dann seine Stimme noch einmal hören. Ich versuchte meinen Geist zu fokussieren, aber er schien mir zu entgleiten. Während ich meinen Kopf gegen die Tür drückte, hörte ich Lilian weinen.

Sie klang verzweifelt, außer Atem. Ich wusste wie sie sich fühlen musste. Ich weilte eine ganze Weile mit dem Kopf an der Tür und lauschte Lilians Schluchzern bevor ich aufstand und die Tür öffnete. Ich konnte nicht über die Schwelle treten. Ich starrte nur vom Türrahmen auf sein Bett. Es war nicht gemacht worden, also lag die Bettdecke wild verknotet in einer Ecke, das Kissen konnte ich nicht ausmachen. Sein Boden war mit Papieren übersäht und an seiner Wand hingen seine halb herunterhängende Football-Poster. Ich schob die Tür ein wenig mehr auf um seinen Schreibtisch zu erblicken. Auch dieser war vollgehäuft mit Blättern und Stiften.

Seine Schultasche lag zusammengefallen unter dem Tisch. Seine Lampe war noch eingesteckt. Mein Blick fiel auf etwas das auf dem Balkon lag. Es war sein Kissen. Eine Ecke des Zimmers war leer und seltsam sauber. Ich spürte, wie mir schlecht wurde als meine Augen darüber wanderten. Ich schluckte. Mein Kopf wanderte wieder zu anderen Seite, wo sein Sofa stand. Ein Polster lehnte unordentlich neben dem Sofa, das andere war an seinem richtigen Platz. Klamotten lagen hier und dort zusammengeknüllt herum. Ich fragte mich, ob sie nach ihm rochen. Ich wusste, dass sie das taten.

Denn schon alleine hier an der Türschwelle roch ich seinen unverkennbaren Geruch nach Wacholder und Kaffee. Ich wollte eintreten. Vielleicht würde ich seine Gefühle fühlen, vielleicht würde ich seine Gedanken hören. Vielleicht würde ich ihm näher sein. Vielleicht würde ich ihn verstehen können. Leise Tränen rollten mir die Wangen herunter und meine Hand ruhte am Türrahmen. Dann drehte ich mich um und lief die Treppen herunter. Seine Tür ließ ich offen. Ich wusste, dass ich ihn wahrscheinlich nie verstehen würde.

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt