„Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein."

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Ich spürte, wie mein Dad mich auffing als meine Knie nachgaben. Ich spürte den weichen Teppich an meinen Knien, als er mich langsam auf den Boden sinken ließ. Ich spürte seine Hände die meinen Kopf an seine Brust drückten. Erst dann bemerkte ich mein Zittern. Mein Körper stand unter Strom. Und gleichzeitig schien ich zu ertrinken.

Mein Atem ging ungleichmäßig. Mein Herz zersprang immer und immer wieder in meiner Brust. Ich schluchzte und versuchte an Luft zu gelangen, aber eigentlich wollte ich das gar nicht. Meine Schreie waren ein Krächzen. „Du lügst!" Mein Dad weinte mit mir, schüttelte immer wieder den Kopf und wiegte mich hin und her. Ich strampelte und meine Arme flogen um mich herum. Ich hatte noch nie solche Schmerzen gehabt. Weiße Pünktchen segelten vor meinen Augen umher. Ich schlug um mich und als mein Dad mich losließ, sprang ich auf wackelnde Beine, stürmte durch den Flur die Tür hinaus in Socken. Die Schreie meines Dads hörte ich stumpf hinter mir.

Ich rannte blindlinks über die Straße. Immer und immer weiter. Meine Kehle brannte, aber es war nichts im Gegensatz zu meiner lodernden Brust. Die kühle Luft ließ das Feuer immer wieder zufrieren und jedes Mal zerplatzte das Eis und tausende Eispfeile stachen mir von innen durch die Haut. Meine Füße brannten vom unebenen Boden und ich zitterte noch immer heftig. Das hier war alles nicht wahr. Nicht eine Zelle in meinem Körper glaubte daran. Ich riss mir meine Haut am Arm auf als ich zu scharf um die Kurve lief und eine Hauswand streifte. Ich japste und röchelte, weil sich die Luft in meiner Lunge sammelte. Ich musste ihn sehen. Jetzt. Ich musste mich vergewissern, dass mein Dad ein Lügner war.

Ich erkannte den Krangenwagen schon bevor ich ihn sah. Die blauen Lichter fielen auf das Nachbarhaus und das bisschen Luft in meiner Lunge verflüchtigte sich. Ich rannte weiter und weiter. Bis ich auf dem Rasen stand. Die Türen des Rettungswagens standen offen, es lag niemand darin. Mein Brustkorb hob und senkte sich und spannte sich heftig über mein Herz. Ein paar Nachbarn waren aus ihren Häusern gekommen und beobachteten das Geschehen. Ich wollte ins Haus stürmen als ich Lilian auf der Terrasse erblickte. Sie saß auf einem Stuhl und sah aus als wäre sie tot. Ihr Gesicht war aschfahl und ihr Blick ging ins Nichts.

Meine Sicht verschwamm von meinen Tränen. Ich lief los, wurde aber von einem Mann abgehalten. „Hey, ist alles in Ordnung mit dir?" Ich brachte nichts außer einem Röcheln hervor. Ich erkannte nicht einmal die Augen in seinem Gesicht, alles verschwamm vor mir. Ich spürte starke Griffe an meinen Schultern und seine Stimme echote durch meinen Kopf. „Ganz ruhig. Du musst atmen, okay?" War er total bescheuert? Wie konnte ich atmen, wenn ich nicht wusste ob Noah es tat? Ich versuchte mich frei zu winden, doch sein Griff war eisern. „Hey, ich weiß nicht, was du vorhast, aber du solltest da momentan nicht reingehen!" Ich fuchtelte wild vor ihm her, zeigte auf mich und dann auf das Haus. Dann erklang eine vertraute Stimme: „Sie gehört zur Familie." Ich fuhr mir über die Augen und erblickte Jay, der die Treppen zu mit hinunterlief.

Ich suchte verloren in seinen Augen nach irgendeinem Zeichen. Aber Jays Augen strahlten nicht. Sie waren traurig und stumpf. Ich sah ihn an, hoffnungsvoll. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und übergab mich in das Blumenbeet. Als ich mich übergeben hatte, war es als saugte man mir das Leben aus dem Körper. In einer Millisekunde. Jay sprang die letzte Stufen hinunter als ich auf die Knie fiel. „Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein." Vielleicht würde sich etwas ändern, wenn ich es nur oft genug sagte.

Jay kniete sich vor mich, aber ich hob schnell die Hand bevor er mich anfassen konnte. Ich wusste nicht wie es war einen Dolch in die Brust gerammt zu bekommen, aber ich stellte es mir genau so vor. Eine bittere Welle von Schmerzen rollte über mich hinweg. Sie vereinte sich mit meiner Wut, meiner Sehnsucht und meiner Hilflosigkeit. Ich sah Jay an, meine Stimme ein heißes Wispern: „Wann?" Ich sah wie auch Jay die Schmerzen überfielen. „Wir haben ihn heute Morgen gefunden." Das war keine Antwort. Hier gab es keine Antwort. Insgeheim war Noah schon früher gestorben.

„Wo?" Ich wollte es nicht wissen. Und doch stolperten die Worte aus meinem Mund. Jay starrte in den Himmel, wahrscheinlich auf der Suche nach seinem Sohn: „In seinem Zimmer." Ich schüttelte den Kopf und drückte beide Hände gegen meine Brust: „Ich war nicht da." Wäre ich doch nur vor seiner Tür gesessen. Wäre ich doch einfach hartnäckiger gewesen. Wäre ich doch nur nie weggegangen. Jays Hand war eiskalt: „Claire, nichts hiervon ist deine Schuld." Ich sah ihn an. Ich glaubte ihm nicht. Ich habe so sehr um ihn gekämpft. Ich habe so sehr an ihn geglaubt. War ihm das überhaupt nichts wert gewesen?

Wie als hätte Jay meine Gedanken gelesen, sagte er mit belegter Stimme: „Auch wir sind sauer, Claire. Das ist okay." Ich konnte noch immer nicht klar sehen: „Oh Gott." Ich sah zu seinem Fensterzimmer. „Er ist weg. Er ist tot." Jay schloss die Augen als würden die Worte ihn foltern. Und das taten sie. Sie folterten uns alle. Ich schluchzte. Er war noch immer da drin. Meine Gefühle wirbelten in meiner Brust. Ich sah Jay an, stellte ihm stumm meine Frage. Jay strich sich wie in Trance über die Unterarme und ich schlug meine Hände vor den Mund. Noah hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Er war noch immer da drin.

Vielleicht trug er sein weißes Shirt. Seine schwarzen Boxershorts. Die Kette seiner Oma. Vielleicht lag er in seinem eigenen Blut. Ich legte mich in den Rasen. Kugelte mich zusammen. Wünschte mir mich aufzulösen. Wünschte mir in seinen Armen zu liegen, seinen Geruch zu riechen, seinen Atem an meinem Nacken zu spüren. Und dann schrie ich. So laut wie ich nur konnte. Vielleicht hörte Noah mich. Vielleicht würde er erkennen, wie sehr er mir wehtat. Vielleicht würde er die Augen aufreißen und zu mir rennen. Mich in die Arme nehmen, mir leise zuflüstern, dass alles nur ein böser Traum war und mich beruhigen indem er mich sanft auf den Kopf küsste. Das hier war nicht fair. Für niemanden.

Mit aller Mühe schleppte ich mich die Treppe hinauf, Jay lief hinter mir. Ich kroch förmlich die letzten Schritte zu Lilian. Diese zuckte zusammen als sie meine Schluchzer hörte. Sie sprang auf und wir fielen uns in die Arme und sanken gemeinsam auf die Knie. Ich spürte ihren gesamten Körper beben und drückte mein Gesicht in ihren Hals. Nach ein paar Minuten spürte ich Jays Arme auf meiner Schulter und ich schluchzte noch mehr. Noah sollte hier an meiner Stelle sein. Ich weiß nicht, wie lange wir so da knieten, aber als sich Lilian von mir löste, waren die blauen Lichter verschwunden. Und Noah auch.

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt