„Ich mache dich kaputt."

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Es war die letzte Aprilwoche und so langsam wurde ich wahnsinnig. Ich hatte Noah seit zehn Tagen nicht mehr gesehen. Die Abschlussprüfungen standen bevor und meine Bewerbungsgespräche standen auch noch aus. Ich musste ihn einfach sehen. Musste mich vergewissern, dass er okay war. Damit ich nicht dauernd an ihn denken musste. Obwohl ich das wohl sowieso tun würde. Ich stand energisch vom Schreibtisch aus, schnappte mir meine Jacke und machte mich auf den Weg zu ihm.

Es war wärmer geworden und der Kirschbaum von Noahs Nachbarn blühte nun mit all seiner Kraft. Ich liebte diesen Baum insgeheim, da er mich immer daran erinnerte ruhig und geduldig zu bleiben. Ich hatte mir sogar ein kleinen Ast mitgenommen und ihn getrocknet an meinem Bett befestigt. Alles was mir auch nur ein wenig Kraft spenden konnte, nahm ich dankbar zu Kenntnis. Ich klingelte und als Jay die Tür beinahe aufriss, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich sah ihn alarmiert an.

Jay hatte eine Schramme an der Wange. „Noah hat keinen guten Tag." Ich schlüpfte hinein und als ich die Treppe hinauf wollte, hielt mich Jay zurück: „Er scheint sehr wütend zu sein, Claire. Und sehr aggressiv." Mein Blick huschte zu Jays Wange. Ich weigerte mich zu glauben, dass Noah mich verletzten könnte. Ich löste Jays Hand bestimmt von meinem Arm: „Ich kann das, glaub mir." Ich rannte die Treppen hinauf und sah zu seiner Zimmertür. Sie stand einen Spalt weit offen und ich hörte ihn schon bevor ich ihn sehen konnte.

Er knurrte und stöhnte frustriert und es schien als würde er irgendetwas umherwerfen. Ich öffnete die Tür ein Stück weiter auf und versuchte nicht komplett geschockt zu sein von all dem Chaos das in seinem Zimmer herrschte. Sein Bett war verschoben, überall lagen Papiere und Stifte herum, seine Kissen lagen zerstreut auf dem Boden, sein Regal war umgekippt in der Ecke und ich erkannte ein paar Macken in der Wand. Noah schien mich nicht zu bemerken, er tigerte vor seinem Sofa auf und ab und krallte sich an seinen Haaren fest.

Ich sagte vorsichtig: „Noah?" Er wirbelte herum und ich zuckte zusammen. Seine Haare standen zu Berge, seine Augen waren rot unterlaufen und er hatte einige Kratzer im Gesicht. Und wie mir nun auffiel auch an seinen Unterarmen. Ich musste die Tränen zurückhalten. Er sah mich so geschockt an, wie ich ausgesehen haben musste als ich das Zimmer betreten hatte. „Was machst du hier?" Ich schluckte: „Ich wollte nach dir sehen." Er knurrte beinahe: „Hier gibt's nichts zu sehen. Du kannst wieder gehen." Seine Worte taten weh, aber ich wusste, dass er es nicht so meinte. Zumindest hoffte ich es.

Ich trat einen Schritt auf ihn zu: „Ich werde nicht gehen." Er sah mich schmerzerfüllt an: „Bitte, Claire, tu mir das nicht an." Ich zog meine Augenbrauen zusammen: „Was denn, Noah? Was tue ich dir an?" Er zeigte hilflos auf mich und dann auf sich. Er weinte. „Sieh mich an, Claire. Und sag mir, dass du das lieben kannst." Ich spürte wie sich die Tränen in meine Augen vermehrten und versuchte die Wut hinunterzuschlucken: „Das sag ich dir jeden Tag." Er stemmte nun seinen Kopf in seine Hände und schüttelte ihn: „Ich kann das nicht, Claire. Das ist einfach falsch."

Jedes seiner Worte zog einen blutigen Schnitt durch mein Herz: „Was redest du denn da?" Noah sah mich an und sein Blick wirkte so verloren und hilflos, dass ich ihn nur an mich heranziehen wollte. „Ich ziehe dich mit rein. In meinen Scheiß. Alle hier." Ich wollte seine Hände nehmen, doch er wendete sich von mir ab. Ich sagte bitter: „Du ziehst mich nicht mit rein. Ich gehe freiwillig mit, okay?" Seine Stimme war eiskalt, so hatte ich ihn noch nie reden hören: „Und das ist einfach falsch." Ich schüttelte den Kopf, das Atmen fiel mir plötzlich unglaublich schwer.

Ich drehte ihn schwungvoll zu mir herum und zwang ihn dazu in meine Augen zu blicken: „Noah." Meine Stimme war hart und bestimmt: „Du wirst mich jetzt nicht wegstoßen. Ich liebe dich. Und all diese verdammte Scheiße, okay? Du kannst das jetzt nicht einfach machen." Sein Blick wechselte von wütend zu todtraurig: „Ich mache dich kaputt." Die Emotionen in seinen Augen verschwammen. Ich legte eine Hand an seine Wange: „Du machst mich nicht kaputt." Er griff nun hilfesuchend nach meiner Hand und ich hielt sie fest. Dann starrte ich in seine Augen: „Aber wenn du mich jetzt wegstößt... dann machst du mich kaputt. Du bist ein Teil von mir, Noah, okay? Bitte." Meine Stimme brach. Ich durfte ihn nicht verlieren.

Ich sah wie er mit sich selbst kämpfte und dann presste er seine Lippen auf meine. Mir entfuhr ein Schluchzen, doch ich streckte mich ihm entgegen und erwiderte den Kuss. Ich schmeckte seine salzigen Tränen und all seine Wut und Traurigkeit. Er fuhr wild durch meine Haare und ich versuchte mich noch näher an ihn zu drängen.

Ich wollte in ihn hinein kriechen und nie wieder herauskommen. Ich konnte mich beinahe nicht mehr an das letzte Mal erinnern wo er mich so geküsst hatte. Er löste sich von mir, vollkommen außer Atem. Er hielt mein Gesicht in beiden Händen und sein Blick huschte zwischen meinen Augen hin und her. Er wisperte: „Ich liebe dich so sehr." Ich ankerte seinen Blick fest und ließ die Worte durch meine Adern fließen, bevor ich zurückwisperte: „Ich liebe dich mehr." Er versiegelte meinen Mund mit seinen Lippen. Ich wusste nun nicht mehr, wessen Tränen ich auf meinen Lippen schmeckte.

„Und du bist dir sicher, dass ich nicht vorbeikommen soll?" Ich hatte meine Jacke schon in einer Hand und lief mit dem Telefon Richtung Tür. Lilians Stimme klang erschöpft: „Nein, bitte, konzentrier dich doch einfach aufs Lernen. Wir schaffen das schon. Das hier ist nur ein kleiner Rückschritt, okay?" Ich schluckte und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht: „In Ordnung, gebt einfach Bescheid, wenn ihr mich braucht." Sie legte auf und ich ließ das Telefon sinken.

Seit zwei Wochen ging Noah nun zum Psychologen und es schien ihm überhaupt nicht zu gefallen. Er redete nicht darüber und anscheinend redete er auch nicht mit seiner Therapeutin. Heute war er einfach von seiner Sitzung abgehauen. Ich war frustriert und verwirrt und auch wenn die Prüfungen bald bevorstanden, hatte ich keine Ahnung wie ich das alles unter einen Hut bringen sollte. Noah hatte eine Schulbefreiung bekommen, er würde seinen Abschluss nachholen müssen.

Über diese Information war niemand großartig froh gewesen. Ich vermisste ihn schrecklich. Die Schule war der einzige Ort an dem ich ihn noch sehen konnte ohne darum zu flehen. Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche und ich zog es heraus. Als ich sah wer mir geschrieben hatte, blieb mein Herz kurz stehen. Es war das erste Mal seit langem, dass Noah sich bei mir meldete und nicht andersherum. Er hatte mir einen Standort geschickt und ich runzelte die Stirn. Warum sollte er mir einen Standort schicken, wenn er doch Zuhause war?

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt