„Du bist kein Monster."

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„Claire, ich glaube langsam solltest du mit den Shots aufhören..." Ich musste kichern, weil Ethan sich beinahe wie mein Dad anhörte. Und um ihn ein wenig zu provozieren, hob ich das nächste Glas. Ich lehnte mich zu ihm vor: „Mach dich mal locker, E, wir haben unseren Abschluss so gut wie in der Tasche und wir alle haben ein wenig Spannung abzubauen, nicht wahr, Harp?" Harper wirbelte auf der Tanzfläche herum. Ich lachte und machte auch eine Drehung. Ich sah Ethan auffordernd an und er blickte mich kurz skeptisch an bevor er sich ein Shot-Glas zum Mund führte. Ich lächelte und tänzelte auf Harper zu, die mich an sich zog. Ich spürte den Alkohol durch meine Adern fließen und spürte wie er alles andere zu verdrängen schien.

Ich warf lachend die Arme in die Luft und wirbelte herum. Ich fühlte mich so leicht und frei. Alles um mich herum verschwamm und die Lichter wurden zu flüssigen Sternen. Ich spürte meinen Körper wieder leben. Und plötzlich blieb ich stehen. Mein Kopf drehte weiter und weiter und weiter aber ich bewegte mich keinen Zentimeter mehr. Warum fühlte ich mich so lebendig wie nie und Noah war nicht hier? Ich schrie Harper an: „Noah ist nicht hier!" Harper sah mich leicht irritiert an: „Ja?" Ich zeigte auf mich und fuchtelte dann mit meinen Armen herum: „Aber ich fühle mich lebendig." Harper zuckte immer noch tanzend die Schultern: „Das ist doch gut, oder?" Ich schüttelte wild den Kopf.

Sie zog mich nah zu sich heran: „Claire, du bist dein Leben. Nicht Noah. Nicht seine beschissene Krankheit." Ich sah sie mit großen Augen an und war sprachlos. Noah war doch mein Leben. Ich taumelte ein wenig unbeholfen von der Tanzfläche hinunter und stellte mich in eine Ecke abseits, Die Musik dröhnte noch immer und ich spürte den Boden beben. Ich zückte mein Handy. Ich glaube, du bist mein Leben.

Die kleinen Wörter auf meinem Bildschirm schienen in ihrer Bedeutung zu groß dafür zu sein. Ich schluckte und versuchte meine Tränen zurückzuhalten. Ich erschrak beinahe als es vibrierte. Und du bist der einzige Grund warum ich noch ein Leben habe. Ich krallte meine Finger um das Handy und starrte auf die Zeilen, die er mir geschrieben hatte. Es erschienen noch mehr. Vielleicht lebst du mehr für mich als für dich. Vielleicht möchtest du für uns beide leben. Vielleicht versuchst du mein Leben mit deinem Leben am Leben zu erhalten. Ich zitterte.

Der Alkohol in meinen Adern schien plötzlich eiskalt zu werden. Denn ich glaubte, Noah hatte Recht. Ich tippte. Vielleicht hast du Recht. Seine Antwort kam sofort. Ich habe Recht. Ich starrte einige Minuten auf seine Worte und dann spürte ich die Panik durch meinen Körper rennen. Noah, ich will dich nicht verlieren. Er antwortete nicht mehr. Ich stand verloren in der Ecke rum und spürte wie etwas in meiner Brust zerbrach. Ein weiteres Stück meines Herzens brach herunter. Einfach so. Schmerzhafter wie alles andere.

Ich hörte nichts von Noah. Seit unserem Handygespräch war eine Woche vergangen und ich tat so als wäre ich krank. Ich lag auf meinem Bett in meinem Zimmer und starrte an die Decke. Ich fühlte mich elend. Als mein Handy vibrierte, ließ ich es einfach auf meinem Nachttisch liegen, es war vermutlich sowieso nur Harper, die sich Sorgen um mich machte. Ich drehte mich zur Seite und starrte das Bild von mir und Noah an. Und dann wurde ich wütend. Ich schnappte mir grob mein Handy und öffnete unseren Chat. Ich stockte abrupt als ich sah, dass er mir eine Nachricht geschrieben hatte. Vielleicht war ich schon immer verloren. Und schon verflog meine Wut.

Ich wurde ängstlich. Ich stolperte in Jogginghose, mit fettigen Haare und Shirt aus dem Haus und machte mich auf den Weg zu ihm. Als ich klingelte, machte mir Lilian auf. Sie sah einmal besorgt an mir herunter und ich sagte nur beinahe heiser: „Noah." Sie trat beiseite, damit ich an ihr vorbeikam. Ich stapfte die Treppe hoch und pochte dann mit voller Wucht gegen seine Tür. „Noah, du wirst mir jetzt diese beschissene Tür öffnen und dann erzähl ich dir mal was vom Verlieren!" Ich klang so wütend, dass ich mich selbst nicht wiedererkannte. Ich hörte, wie er die Tür aufschloss. Ich stürmte ins Zimmer und starrte ihn an. Ich konnte mir vorstellen, dass ich beinahe genauso verwahrlost aussah wie er.

Ich schnaufte und dann legte ich los. „Jeden einzelnen Tag habe ich das Gefühl dich ein Stück mehr zu verlieren. Und trotzdem gebe ich die Suche nicht auf. Ich bin jeden einzelnen Tag so verdammt frustriert und wütend. Wütend auf dich und die Welt und mich, weil ich keine Ahnung habe wie ich dir helfen kann und ehrlich gesagt würde ich lieber nichts spüren als dieses gesamte beschissene Zeugs." Ich musste mich selber abbrechen, weil ich spürte wie meine Kehle eng wurde. Noah musterte mich komplett emotionslos. Seine Augen wanderten zum Boden, meine Stimme zitterte: „Sieh mich an, Noah." Er reagierte nicht darauf. „Sieh mich an." Er starrte noch immer auf den Boden: „Sieh mich an, bitte. Ich flehe dich an." Bittere Tränen rollten meine Wangen hinunter und ich schluchzte: „Du musst mich ansehen. Du siehst mich immer an." Noah sagte leise: „Du kannst mich nicht heilen, Claire."

Ich sagte trotzig: „Aber du musst nicht alleine sein während du dich selber heilst." Jetzt sah Noah mich an und ehrlich gesagt wusste ich nicht ob ich es doch besser gefunden hatte als er auf den Boden geschaut hatte. Ich erkannte nichts mehr an ihm. Seine Augen waren stumpf und leblos. Seine Arme hingen seitlich an seinem Körper und alles ihn ihm schien sich seltsam zusammenzukrümmen. Er wirkte fahl und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. „Selbst wenn ich bei dir bin, fühl ich mich einsam." Noch nie hatte er mich so sehr verletzt.

Ich nickte erschöpft, vielleicht war es einfacher alles aufzugeben. Noah seinen Weg gehen zu lassen. Ich ließ mich auf den Boden gleiten. Noah stand noch immer vor mir und sah auf mich hinab. „Die Monster in meinem Inneren kommen immer wieder zum Vorschein, Claire." Ich nahm seine Hand: „Du bist kein Monster." Er kniete sich vor mich, legte eine Hand an meine Wange: „Wenn ich dich jetzt bitte zu gehen, hab ich dich dann überzeugt?" Ich sah ihn schmerzhaft an: „Du tust mir weh." Er nickte: „Vielleicht realisierst du dann, wie sehr ich dich kaputt mache." Ich packte seine Hand fester: „Nein." Sein Gesicht wirkte noch immer ausdruckslos. Aber ich erkannte, dass er sich selber auch Schmerzen hinzufügte.

Ich wisperte: „Bitte, verlass mich nicht. Du tust uns weh." Jetzt wandte er für einen kurzen Moment den Kopf ab. Als er ihn wieder zu mir drehte, nutzte ich meine Chance und presste meine Lippen auf seine. Ich wollte unser Orchester zum Leben erwecken. Aber alles blieb stumm. Noah erwiderte meinen Kuss nicht. Ich rutschte an seinen Lippen hinunter und weinte bitterlich. Ich hob meinen Kopf und wartete bis sich mein Schluchzen beruhigt hatte. Dann sagte ich mit bebender, rauer Stimme: „Ich liebe dich. Und ich werde dich nicht aufgeben. Du kannst mir so sehr wehtun wie du willst. Ich gebe dich nicht auf. Es ist mir egal, wenn du mich aufgeben möchtest, aber ich werde es nicht tun." Er sah mich an und dann trat er einen Schritt beiseite: „Tu was du nicht lassen kannst."

Ich richtete mich mühsam auf und als ich an ihm vorbeilief, packte er mein Handgelenk. Mein Herz schien beinahe zu bersten. „Du musst wissen, dass ich dich loslassen muss. Ich muss einfach." Er strich mir sanft über die Wange und für einen kurzen Moment sah ich die bedingungslose Liebe in seinen Augen aufblitzen. Und dann ein wenig Sehnsucht, bevor sie wieder beinahe ausdruckslos wurden. Er wisperte: „Mach's gut, Claire." Es war die schönste Liebeserklärung, die er mir je gemacht hatte. Ich schmiegte mich an seine Hand bevor er sie wegzog. Dann lief ich mit erhobenem Kinn in den Flur hinaus. Ich würde ihn nicht aufgeben. Niemals.

"Mach's besser."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt