1. Abschnitt (3.15.2,5 in der schwarzen Ära)

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Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die Wolken. Sie schienen auf den kalten, weißen Schnee der vor ein paar Wochen gekommen war und seitdem schwer auf den Fichten und Tannenbäumen im Wald, so wie auf den Häusern und Straßen in der Stadt lastete. Es war noch früher Morgen, die meisten Stadtbewohner schliefen noch, anders als die Bewohner des Waldes. Zu dieser Zeit des Tages war es still. So still, dass die Stille beinahe schwer auf dem Land lag. Schwer wie die Kälte und der Schnee.

Es war so kalt dass die Luft auf der Haut zu brennen schien und jeder Atemzug schwer fiel. Die Dunkelheit würde nicht mehr lange anhalten. Mit dem Beginn des Tages würde sie verschwinden und mit ihr die Stille. Die Bewohner des Waldes, die sich nur in der Nacht aus ihren Verstecken trauten, würden in ein paar Minuten alle verschwunden sein. Sie flohen, aus Angst vor dem Licht, das vom Horizont aus schon angefangen hatte seinen Weg zu bahnen und bald alles erhellen würde. Die Sonne würde ihre geliebte Nacht beenden, so wie sie es jeden Morgen tat. Doch noch bevor der Tag begann und noch bevor die Menschen aufwachten, mit ihnen der alltägliche Lärm, wurde die dumpfe Ruhe im Wald unsanft gebrochen. Durch die Stille drang das Schreien eines Kindes. Ein Hilfeschrei, der sich an die Welt richtete, an jeden, der ihn hören konnte. Das Neugeborene, von dem der Schrei ausging war schnell von dunklen Kreaturen umgeben, die sich im Schatten der Bäume versteckten, und es von dort aus gierig anstarrten. Sie knurrten und scharrten. Das Kind lag auf einer kleinen Lichtung nur wenige hundert Meter von der Stadt entfernt. Es bemerkte die dunklen Gestalten nicht und schrie einfach weiter. Die erste Gestalt machte bereits einen Schritt aus dem Schatten heraus und auf das nackte hilflose Baby zu. Ein nacktes, hilfloses Baby, mitten im Schnee. Keiner der Waldbewohner hatte gesehen wo es her kam, und da waren auch keine Fussabdrücke. Aber das schien nun nicht besonders wichtig, da das kleine Wesen, im unwahrscheinlichen Fall dass es nicht von den Wölfen oder von anderen Kreaturen gefressen wurde, ohnehin erfrieren würde. Das Scharren wurde schneller, das Knurren aggressiver und lauter. Sie wollten das Kind bevor der Tag begann. Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit um sich um das Baby zu streiten.

"Das Kind gehört mir"

Die Kreaturen hielten inne als sie die Stimme hörten und auch das Baby hörte auf zu schreien, als ob es wüsste, dass es nun in Sicherheit war. Aus dem Schatten trat eine Frau. Sie trug schwarze Tücher. Die Wesen der Nacht wichen respektvoll vor ihr zurück. Der Tag hatte beinahe angefangen und sie flohen zurück in ihre Verstecke. Die Frau hatte keine Angst vor dem Tag. Trotzdem gehörte sie zur Nacht. Eine der mächtigsten und bösartigsten Kreaturen der Nacht: Man nannte sie die Namenlose.

Und doch schien sie ein Mensch zu sein. Sie hatte ihrer Art schon vor langer Zeit den Rücken zugekehrt. Keines der Tiere, Geister oder Dämonen hatte es gewagt sich ihr in den Weg zu stellen und sich das Neugeborene zu nehmen. Sie stapfte ein paar Schritte durch den Schnee und nahm das Kind auf den Arm.

Die Sonne war aufgegangen. Endlich. Der Tag war da. Im Schutz der Sonnenstrahlen nahm die Frau eins der Tücher ab, das zuvor ihr Gesicht bedeckt hatte. Lange goldblonde Haare, sie glänzten im Licht. In ihren Augen lag Dunkelheit. Als sie das Baby mit dem Tuch einwickelte, fielen ihr ein paar kleine, weiße Flügel auf seinem Rücken auf. Flügel aus weichen Federn. Vorsichtig strich sie darüber. Das Baby zuckte leicht und kuschelte sich fester an ihren Arm. Dann bedeckte die Frau die Flügel mit dem Tuch und gab dem kleinen Mädchen einen Kuss. Scheinbar liebevoll sah sie zu wie es einschlief. Sie war sich zwar nicht sicher was für ein Wesen sie gerade in den Armen hielt, aber sie wusste, dass es im Schlaf wirkte wie ein Engel. So wie jedes menschliche Kind im Schlaf auch wie ein Engel wirkt. "Lucifer" flüsterte sie ihm zärtlich ins Ohr.

"ich nenne dich Luci"

NamenlosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt