26.Abschnitt (Zur gleichen Zeit, in Berka; Aus der Sicht von Nicholas)

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Draussen goss es in Strömen. Zu meinem Füssen lag Simalou. Der dicke, schwarze Kater hatte es sich wie so oft auf seinem roten Samtkissen vor unserem Kamin bequem gemacht. Halb im Schlaf streckte er alle viere von sich, in letzter Zeit schienen solche Bewegungen fast die grösste Anstrengung zu sein, die Simalou noch auf sich nahm. Er war sehr alt. Seine Tage auf der Strasse waren lange vorbei und hier bei mir zuhause zwang ihn niemand mehr sich zu bewegen. Alles was er brauchte, sein stets gefüllter Fressnapf, sein Trinkwasser und sein Katzenkloh, war immer nur ein paar Schritte entfernt. Und wenn er keine Lust hatte aufzustehen weil ihm das Katzenkloh gerade zu weit weg erschien pinkelte er manchmal auch einfach auf sein Kissen. Ab und zu wusch ich es. Der verwöhnte alte Kater sollte die letzten Monate oder Wochen die ihm noch blieben nicht so verbringen, wie er einen grossteil seines restlichen Leben verbracht hatte: auf der Flucht. Diese Jahre lagen ihm noch heute schwerer auf den Knochen als das Fett. Was auch immer Simalou jetzt umbrachte, ich war sicher er hatte es sich schon damals schon eingefangen.

In einsamen kalten Nächten wie dieser dachte ich noch immer häufig an meine Schwester Benique. Ich hatte nichts mehr von ihr gehört seit ich ihre Welt verlassen hatte um in dieser hier zu leben. Wie es ihr ging? Hatte sie geheiratet? Hatte sie Kinder? Hoffentlich ging es ihr gut. Es wäre schade, wenn ich sie nicht mehr wieder sehen würde. Wie der fette Kater Simalou war auch ich frühzeitig gealtert. Nicht weil ich lange hatte fliehen müssen, denn es wäre beinahe ausgeschlossen dass mir irgendjemand oder irgendetwas hierhin gefolgt wäre. Es lag am Verlust meiner Familie und allem anderem was ich je geliebt hatte. Und es lag daran, dass meine Lungen die klare, frische Luft auf den Wiesen in Novalis vermissten. Als ich diese Welt zum ersten mal betreten hatte, waren mir die Abgase in der Luft direkt aufgefallen, auch wenn ich sie damals nicht hatte zuordnen können. In der Stadt waren sie dann noch schlimmer geworden als draussen in der Natur. Sie waren beinahe unerträglich. Heute roch ich sie kaum noch. Doch nur weil die Giftstoffe sich in meinem Körper eingenistet hatten um mich taub zu machen und mir meinen Geruchssinn zu rauben. Alles was ich noch wahrnahm, alles was ich fühlte, hörte, schmeckte, roch oder sah, nahm ich nur hinter diesem Gefühl der Taubheit war. Die Menschen die hier aufgewachsen waren, konnten sie wohl besser vertragen. Sie waren in dieser Luft geboren und hatten nie die klare, gesundheitsbringende Luft aus meiner Heimat geniessen können. Hätte ich sie doch mehr genossen. Wie viele Jahre blieben mir noch? Und was hatte ich getan? Wie hatte ich mein Leben verbracht? Nach meiner Flucht hierher war es mir am Anfang sehr schwer gefallen mich zurecht zu finden. Alles war so anders, so gross und zügig. Ein paar Jahre hatte ich als Kellner gearbeitet. Dann hatte ich eine nette, sehr reiche Familie kennen gelernt, die mich als eine Art Butler einstellte. Auch heute noch besuchte ich sie ab und zu. Manchmal um auf die Kinder aufzupassen, manchmal einfach so. Viel Geld hatte ich nie gebraucht. Mit den paar Freunden, die ich hier gemacht hatte, traf ich mich immer noch zwei oder dreimal in der Woche, um ein Bierchen zu trinken und über unsere Leben zu reden. Ich hörte meist nur zu, denn ich hatte keine Familie gegründet, war nicht wie die anderen. Als hätte ich nie wirklich hier hin gehört. Mein Leben war langweilig und grau, aber es war in Ordnung. Genau, in Ordnung. Denn es war bequem und berechenbar, kein durcheinander. Ich und Simalou, wir hatten vielleicht ja doch einiges gemeinsam.

So wie meine Freunde ihre Frauen und/oder Kinder liebten, denn in dieser Welt liess man sich ja scheiden, so liebte ich meine Ruhe und mein bequemliches Leben. Wenn ich nur Benique ein letztes mal hätte sehen können. Sie hatte doch diesen Uhrmacher heiraten wollen. Ich konnte ihre Familie geradezu sehen, wenn ich nur die Augen schloss und sie mir vorstellte. Benique hatte das bekommen, was ich mir mein ganzes Leben so gewünscht hatte und jetzt konnte sie es nicht einmal mit mir teilen.

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