Jeder Tag war gleich. Ich wachte immer vom selben Alptraum auf. In meinem Traum war ich im Wald vor der Stadt. Man erzählte sich Dinge über diesen Wald.
Die Bäume fingen an nach mir zu greifen und ich versuchte vor ihnen weg zu rennen, aber nicht in die Stadt sondern in die andere Richtung, ich rannte immer tiefer in den Wald. Schliesslich stolperte ich, meist weil eine der Baumwurzeln mich am Fuss erwischte und festhielt. Dann rissen mir die Äste unsanft die Kleider vom Leib, zerkratzten mich und schlugen kraftvoll auf mich ein. Als ich endlich aufwachte war ich nass vor Angstschweiss und mein Herz schlug gegen meine Brust als wollte es sie brechen. Aber ich war wach. Und draussen war die Sonne schon fast aufgegangen das hiess, es gab Frühstück. Ich zog ein weisses Kleid an, weil es das erste war, was ich in meinem Schrank fand. Dann eilte ich die Treppe hinunter und in den Essensraum. Ihminen und Puoliso hatten schon angefangen.
Puoliso begrüsste mich mit einem kalten "Hallo.", Ihminen mit einem angetrunkenen "Na süsseee"
"Hallo", sagte ich und nahm mir ein Stück Brot und etwas Käse. Ihminen. Mein Freund und mein Vater, mein liebender Vater. So liebevoll.
Er schmatzte so laut dass ich ihn auch auf der anderen Seite des Tisches deutlich hören konnte. Wie ich dieses Leben liebte. Liebte. Es war so wundervoll.
Plötzlich ging hinter mir eine Tür auf. Ein Mädchen mit hellblonden, fast weissen Haaren, dass in schwarzen Tüchern gekleidet war, stürmte in den Raum. Noch nie hatte ich jemanden in so komischen Kleidern gesehen. Etwas an ihr irritierte mich. Ich meine ausser dass sie völlig unerlaubt und unangemeldet ins Haus des Bürgermeisters stürmte und unser gemeinsames Frühstück unterbrach. Vater würde sie wahrscheinlich umbringen dafür. Schade, dass ich ihr nicht helfen konnte. Und doch war da etwas an ihr das ich niemals hätte sachlich beschreiben können, nur fühlen.
Zornig erhob sich Ihminen um dem Mädchen seine Meinung zu sagen. Ein paar Sicherheitsbeauftrage hatten sie schon eingekreist, als sie ihr Schwert zog. Blut! Echtes Blut! Mörderin!
Dann ging sie auf meinen Vater zu. Ihminen wich zurück und ich stürmte zwischen die beiden. "NEIN!", schrie ich.
Eiskalte, hellblaue Augen starrten mich an. Für einen Augenblick bewegte sich niemand. Was war das an ihr? Was war das zwischen uns? "Du wirst mir meine Mutter zurück geben.", sagte das Mädchen zu Ihminen und blickte an mir vorbei. "Kann ich nicht"
Das Mädchen war möglicherweise verrückt. "Wir werden sehen was du kannst."
"NEIN!"
"Lass sie.", sagte Puoliso. Ihminen blickte paranoid nach links und rechts als würde er nach einem Fluchtweg suchen. Er realisierte nicht, was seine Frau gerade gesagt hatte.
Das Mädchen mit den eiskalten Augen nahm meine Hand. Was war das zwischen uns? Die Verbindung wurde immer stärker und ich konnte plötzlich fühlen, was sie fühlte, sehen, was sie sah und wusste, was sie wusste. Ihr Name war Luci. Sie war ein Engel, aber sie wusste nicht was das bedeutete. Ich wusste es auch nicht. Ihminen hatte sich ein paar Schritte zur Tür bewegt als Luci und ich von der zwischen uns entstandenen Verbindung noch völlig überrumpelt gewesen waren. Luci wollte ihn töten.
"ICH LIEBE IHN!", schrie ich so laut ich konnte. Die Gläser zitterten auf dem Tisch. Luci, die gerade ebenfalls meine Gedanken gelesen hatte blieb in ihrer Bewegung stehen. Stark irritiert sagte sie: "Was?"
"Ich habe gesagt, ich liebe ihn."
"Du kannst ihn unmöglich lieben.", sagte Luci, nicht Puoliso. Puoliso blieb still auf ihrem Stuhl sitzen und beobachtete was geschah.
"Ich habe gesehen was er dir angetan hat."
"Nichts hat er mir angetan!"
"Du verdrängst es."
"JETZT TÖTE IHN ENDLICH!", schrie Puoliso. Ihminen, dem jetzt erst klar wurde, was seine Frau gerade gesagt hatte ging jetzt nicht mehr langsam auf die Tür sondern schneller auf seine Frau zu. Sie stand auf und bewegte sich langsam auf den Ausgang zu. Keiner traute sich zu rennen.
Luci wollte ihn jetzt umbringen, ich spührte es. Ich nahm ihre Hand um ihr klar zu machen was ich fühlte und sie davon abzuhalten Ihminen zu töten. Meine Liebe. Luci verdrehte die Augen. Völlig wild geworden stürmte sie zwischen Ihminen und Puoliso. "Du gehst.", zischte sie zu Puoliso. Die Frau atmete erleichtert auf und rannte, zum ersten mal seit langem frei, aus dem Haus. "Und du.." Ihminen zuckte zusammen. Hatte sein letztes Stündlein geschlagen?
"Ich bin noch nicht fertig mit dir.", zischte Luci. Aber ohne ihn anzurühren ging sie zu mir und nahm meine Hand.
"Wo ist sie?"
Erinnerungen flossen durch mich hindurch. Lucis Erinnerungen an ihre Mutter. Jeder Tag an dem sie da war, jede Geschichte die sie ihr erzählt hatte, alle Gefühle die sie ihr eingeflösst hatte. Sie kam nur noch seltener, ich fühlte wie Luci sie vermisst hatte. Dann sah ich ihre Magie, die Experimente, den Schmerz, den Plan ihrer Mutter Luci für irgendetwas zu benutzen. Doch der grösste Schmerz lag in der Erinnerung wie ihre Mutter plötzlich leblos vor ihr zusammensackte. Seitdem lag ein blutroter, aggressiver Schleier auf Lucis Sicht. Sie fühlte sich hilflos und verloren ohne ihre Mutter.
"ZEIG MIR DIE NAMENLOSE!!!"
Ihminen hob seine Hand, als wolle er Luci beruhigen, gab diese Idee aber schnell auf.
"Sie ist oben. "
Er führte Luci und mich durch die Lobby, die Treppe hinauf und in sein Schlafzimmer, wo er uns durch die im Kleiderschrank versteckte Geheimtür in sein Arbeitszimmer führte. Ich kannte diesen Raum. Luci betrat das kleine Zimmer vor mir und ich blieb stehen. Ich wollte mich nicht an das erinnern, was hier passiert war. Auf Ihminens Schreibtisch, in einer schwarzen Skulptur, die eine Hand dastellte, lag eine Glaskugel. Es war die Art von Glaskugel die man zu Weihnachten oft als Dekoration verwendet hätte. Auf ihrem Boden lag eine mit Kunstschnee bedeckte Stadt. Über der Stadt schwebte ein grauer Nebel, eine gefangene Seele.
Luci schnappte sich die Kugel direkt und liess dann ihre Augen durch das Zimmer wandern. Viele gefangene Seelen, Gift, Waffen, Tränke... Nichts davon störte sie. Aber ihr Blick blieb in einer Ecke hängen: Dort stand eine gewaltige Schere, in einem Korb daneben Federn. Die weissen Federn waren mit dunklem, getrocknetem Blut verschmiert. Meine Erinnerungen durchflossen mich und sie durchflossen Luci.
Nach vorne gebeugt, kaltes Metall auf meinem Rücken. Taubenfick. Schere zu. Schmerz, warmes Blut, dass an mir herunterfloss und auf den Boden tropfte.
Luci steckte die Glaskugel in eine aus Leder gefertigte Tasche, die sie unter einem schwarzen Tuch mit sich trug. Dann ging sie auf Ihminen zu. "Ich liebe ihn.", wiederholte ich nachdrücklich. Noch mehr Erinnerungen. Sex. Nein. Ich wollte nicht daran denken. Jetzt sah es Luci. Sie sah alles.
Und aus ihrem Ekel baute sich ein gewaltiger, gnadenloser Zorn auf.
"Aber ich liebe ihn."
Blut. Sein Blut. Sie hatte seinen Hals aufgeschlitzt. "Du wirst ihr nie wieder weh tuen.", sagte Luci in ruhigem und bestimmtem Tonfall. Er röchelte noch nach Luft.
"Du hast Glück dass sie hier ist, sonst hätte ich mir etwas mehr Zeit genommen hierfür."
Ihr Schwert traf seine Augen. "Nein."
Auf Knien brach ich in Tränen aus. "Vater."
Sie drehte sich zu mir um: "Er ist nicht dein Vater."
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Namenlos
HorrorIn mitten des Zeitensumpfes kämpfen Stadtbewohner um ihr Überleben und ihre Würde. Die Geschichte spielt in Novalis, eine Stadt die tief im Zeitensumpf verborgen ist. Als die Dunkelheit die Stadt an sich reißt, beginnt ein neues Zeitalter. Die Stad...