12.Abschnitt (23.8.7,5)

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Aufregung lag in der Luft. Ich und die Ratte waren die ganze Nacht aufgeblieben und hatten die Sterne gezählt, geredet und viel gelacht. Als die Sonne aufging hatte keiner von uns Lust schon schlafen zu gehen. Meine Mutter und Isegrimm würden bei Tageslicht nicht mehr nach uns sehen. Also beschlossen wir in die Stadt zu gehen. Mama hatte mir strengstens verboten in die Stadt zu gehen. Ich war noch nie dort gewesen. Aber gerade dass machte es so verlockend. In der Nähe des Waldrandes standen nur wenige Häuser. Sie waren klein und ihre Wände waren entweder aus dunklem, angefaultem Holz oder aufeinander gestapelten hellroten Backsteinen. Nicht besonders stabil und auch nicht besonders schön. Wenn sie ein Dach hatten war es aus Holz, meistens lagen bloß ein paar lose Bretter auf den ruinenartigen Hütten. „Hier habe ich früher gewohnt." sagte die Ratte während sein Blick in Gedanken über die grauen Haufen aus kaputten Steinen, die losen Ziegel und das nasse, stinkende Heu auf dem Boden wanderte. Er blieb vor einem dunkelgrauen Haus aus Stein stehen.

Dieses war auf den zweiten Blick in einem etwas besserem Zustand als die anderen. Die Wände waren zwar ein bisschen schief und eingebeult an einigen Stellen, aber sie reichten bis zum Dach.

Das Dach bedeckte das komplette Haus. Es war sogar mit ein paar rostigen Nägeln, die überall aus dem Holz herausragten mehr schlecht als recht befestigt worden.

„Genau hier." Ich konnte mich noch gut erinnern wie ich manchmal tagsüber gehört hatte wie die Ratte aufgestanden war und sein Zimmer verlassen hatte. Wahrscheinlich war er dann hier hingekommen. Natürlich war er auch in die Stadt gegangen.

„Hier haben ich und mein Vater gewohnt." Er betrachtete eine leere Glasflasche neben dem Eingang. Daneben lagen Scherben einer anderen Flasche.

Ich konnte ihm ansehen dass er reden wollte. „Vermisst du ihn?" Das war die falsche Frage. Die Ratte antwortete nicht. Seine Augen waren auf das leere Schnapsfläschchen fixiert.

„Was war er für ein Mensch?" versuchte ich es erneut. Anscheinend war das immer noch nicht die richtige Frage, dennoch drehte er sich zu mir um und sah mich an.

„Er hat sich verändert nachdem meine Mutter und Rebecca verschwunden sind." Pause. „Als ich 4 Sandkörner alt war hat er nicht mehr genug Geld verdient um unser Haus zu bezahlen. Er hat den ganzen Tag nur getrunken." Die Ratte atmete tief ein. „Als unser Haus dann versteigert wurde lag er in irgendeinem Straßengraben und hat seinen Suff ausgeschlafen." Noch nie hatte ich die Ratte so traurig gesehen. Vielleicht lag es gar nicht an mir, vielleicht hatte ich die richtigen Fragen gestellt. Vielleicht war das einfach nur eine falsche Situation in der man keine richtigen Fragen stellen konnte.

„Am Abend hab ich ihn dann hierhin getragen. Ich wollte nicht dass er erfriert." Pause. Ob ich irgendetwas sagen sollte? „Anfangs hat er mir noch ab und zu geholfen. Aber irgendwann verbrachte er jeden Sonnengang nur noch in irgendwelchen Pubs und hat rumgepöbelt. Ich hab mich selbst versorgen müssen." Noch eine Pause. „Und vor ein paar Sandkörnern hat Samjiva sich ihn dann geholt. Ich war da. Ich habe gesehen wie diese schwarz gekleideten Kreaturen meinen Vater aus unserem Zuhause gezerrt haben. Eigentlich wollte ich ihm helfen aber sie hätten mich umgebracht." Am Himmel waren ein paar Schäfchenwolken zu sehen. „Und vor etwa einem Sandkorn hat Isegrimm mich dann adoptiert." Deprimiert lächelnd und spöttisch guckte er an sich selbst herab: „Jetzt trage ich schwarze Tücher."

Mir wurde gerade zum ersten mal wirklich klar, dass man Samjiva auch anders sehen konnte als als Heimat und Familie. Für die Bewohner der Stadt musste Samjiva etwas unglaublich beängstigendes sein. Warum hatte ich diesen Gedanken nicht schon früher gehabt? Ich hatte ihn gehabt, ich hatte ihn bloß immer wieder verdrängt weil es meine Familie war. Die Stadtbewohner kannte ich nicht.

„Warum sind die Häuser hier alle verlassen?" Erst guckte die Ratte etwas enttäuscht, worüber konnte ich nicht genau sagen.

Aber dann erklärte er ein bisschen stolz, so wie er es immer war, wenn er mir etwas erklären konnte: „Diese Häuser haben auch zur Stadt gehört, bevor Samjiva hier her kam. Aber seit Samjiva den Wald besiedelt hat traut sich niemand mehr in die Häuser die in der Nähe des Waldes stehen. Und sie haben allen Grund dazu. Früher standen viel mehr Häuser hier. Die Kreaturen aus dem Wald haben sie abgerissen. Der Wald ist gefährlich."

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