30.Abschnitt (2.12.9,5; Aus der Sicht der Ratte)

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Mein erstes Opfer war nun 2303 Sonnengänge und 2302 Nächte her. Seitdem hatte ich noch drei andere Menschen geopfert. Zwei Kinder: Ein Junge, etwa 6, und ein Mädchen, etwa 8 Jahre alt. Ausserdem eine ältere Frau, Madame Gutter. Sie war die einzige deren Namen ich kannte. Früher war sie gut mit meiner Mutter befreundet gewesen.

Ich konnte mich nur sehr undeutlich an meine Mutter erinnern, deshalb war ich als kleiner Junge sehr dankbar gewesen als Madame Gutter mir von ihr erzählte. Für meinen Vater war es immer sehr schwer gewesen über sie zu sprechen. Ich war kaum ein halbes Sandkorn alt gewesen als meine Mutter verschwand. Niemand hatte mir die Geschichte genauer erzählen wollen aber ich wusste dass Samjiva etwas damit zu tuen gehabt hatte.

Ihre langen, blonden Haare und ihre warmen Umarmungen waren das einzige woran ich glaubte mich erinnern zu können. Bis ich sie wieder getroffen hatte, schienen diese Erinnerungen für mich unantastbar gewesen zu sein. Aber dann hatte ich sie kennen gelernt. Die Namenlose, nicht Benique. Sie sah noch genauso aus wie damals, hatte ich mir eingeredet. Trotzdem war jede ihrer Bewegungen, jedes Wort und jeder Blick anders. Ein bisschen hatte ich gehofft, sie hätte mich vermisst, so wie ich sie vermisst hatte. Nein, das hatte sie nicht. Seit ich sie hier zum ersten mal gesehen hatte, hatte sie nicht ein Wort mit mir gewechselt. Am Anfang hatte ich noch ab und zu versucht ein Gespräch mit ihr zu beginnen, aber mir war recht schnell klar geworden dass diese Frau, oder was auch immer sie war, schon lange nicht mehr meine Mutter war. Sie sprach häufig mit Luci, sie behandelte sie ein bisschen wie ihre Tochter, was mich eifersüchtig machte. Gleichzeitig machte ich mir Sorgen. Die Namenlose, und das hatte Isegrimm mir bestätigt, hatte keine Gefühle mehr. Zumindest nicht so tiefe Gefühle wie Liebe. Keine Liebe ist tiefer als die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Ein seelenloses Wesen wie sie könnte so etwas nicht fühlen. Ich wusste es einfach. Nur was wollte sie von Luci? Wohin würden mich solche Gedanken führen? In meiner Lage konnte ich sicher keinem mehr helfen. Ich konnte ja nicht mal mir selbst helfen. Gerade jetzt war sie bei der Namenlosen. Was die Namenlose in Nächten wie diesen mit ihr tat? Es konnte nichts gutes sein. Und hier war ich, sass Isegrimm gegenüber am Lagerfeuer. Als mich Isegrimm hierhin gebracht hatte war ich ihm sehr dankbar gewesen. Er hatte mir einen sicheren, warmen Platz zum schlafen gezeigt und alles andere was ich zum leben brauchte. Ab und zu hatte er mir und Luci Geschenke aus der Stadt gebracht. Auch dafür war ich dankbar gewesen. Jetzt konnte ich nicht mehr dankbar sein. Obwohl ich mir inzwischen sicher war dass Isegrimm, anders als die Namenlose, sicher eine Seele hatte, war er die meiste Zeit kalt und stumm. Bevor ich selbst ein Mitglied von Samjiva geworden war, hatte ich nie verstanden wieso Isegrimm so war, wie er war. Jetzt war ich häufig genauso kalt und stumm und ich verstand nur zu gut, worüber Isegrimm nicht reden wollte. Ich wusste, dass er manchmal mit anderen Mitgliedern Samjivas durch den Wald streifte, und auch zu anderen Orten mit ihnen ging. Ich konnte ahnen, was sie taten. Ein paar mal hatte ich getötete Tiere im Wald gefunden. Aber sie waren nicht bloss getötet wurden, nicht kurz und schmerzlos wie ich sie beim jagen getötet hätte. Man hatte ihre Gliedmassen ausgerissen und sie dann ausbluten lassen ohne ihr Fleisch zu essen oder etwas aus ihrem Fell zu machen. Man hatte sie getötet um zu töten. Warum Isegrimm sich mit den anderen Mitgliedern Samjivas traf konnte ich immer noch nicht verstehen. Vermutlich war er so kaputt, weil er schon seit mehreren Jahrzehnten Mitglied von Samjiva war. Vermutlich würde ich in ein paar Jahren genau so sein wie er. Manchmal wollte ich ihn hassen, weil er mich hier hin gebracht hatte. Aber es war nicht möglich, er war zu sehr so wie ich. Wenn Leviathan mir sagen würde dass ich einen Menschen aus der Stadt hier hin bringen sollte, würde ich es auch tuen ohne zu zögern. Vielleicht war es sogar Isegrimms Entscheidung gewesen.

"Wie viele hast du schon geopfert?", hörte ich meine Stimme fragen. Isegrimm hörte auf die Flammen anzustarren und sah etwa 2 Kass lang in meine Richung bevor er antwortete: "vielleicht 300"

Seine starke, behaarte Hand griff über das Feuer und nahm sich das halbgare Bein eines dicken Hasens, den wir zu Beginn der Nacht erwischt hatten. Das Blut lief über seinen dreckigen Bart bei seinem ersten grossen Biss. Es störte ihn nicht im Geringsten. Ein paar Danire sassen wir einfach nur so da, ohne zu reden. Trotzdem genossen wir die Gesellschaft des anderen irgendwie. Es war schöner gemeinsam in einsamen Gedanken zu versinken.

Es kam sehr unerwartet für uns beide, als die Namenlose und Luci sich zu uns setzten. Luci mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht: "Na ihr Taubstummen", keiner antwortete. Die Namenlose sagte nichts und blieb ausdruckslos als sie sich neben Isegrimm und Luci in den Kreis setzte, so weit von mir weg wie sie konnte. "Mmh, lecker Hase.", sagte Luci. Die Namenlose ass nichts. Sie war der einzige Mensch den ich kannte, sofern sie noch ein Mensch war, der noch blasser war als Luci. Trotzdem sah sie irgendwie hübsch aus im Licht des Feuers und ein Blick auf sie brachte wieder einmal die Erinnerungen an meine Mutter hoch. Ein paar weitere Stunden sassen wir am Feuer, Luci legte Holz nach und erzählte uns allen zum hundertsten mal wie sehr sie sich auf ihre Aufnahme in Samjiva freute, wie viel Spass ihr das Bogen schiessen machte und redete dann noch weiter über das kleine Schwert, das Isegrimm ihr aus der Stadt mitgebracht hatte. Ich schaffte es nicht ihr die ganze Zeit zuzuhören. Nachdem sie mir, der Namenlosen und Isegrimm ein paar Fragen gestellt hatte, irgendetwas ähnlich belangloses, hörte sie dann auch auf zu reden und genoss leise die sternenklare Nacht und das Feuer. Isegrimm hatte ihre letzte Frage nicht mehr beantwortet.

Als die Sonne begann aufzugehen, stand die Namenlose auf und um zu gehen. Luci folgte ihr.

Plötzlich stolperte die Namenlose und blieb mit dem Gesicht auf dem Boden liegen. Neugierig erstaunt sahen ich und Isegrimm zu. Über Isegrimms Gesicht huschte ein kurzer Schatten, eine Ahnung. Als die Namenlose auch nach ein paar Kass nicht wieder aufstand, bückte sich Luci um sie umzudrehen. "Mama?"

Ihre Augen waren geschlossen, als würde sie schlafen. Ihre Haut war schon lange kalt und bleich gewesen. Luci rüttelte an ihrem Körper. "Mama?", fragte sie lauter und verzweifelt. Nichts passierte. "MAMA?"

Sie richtete den Körper auf und schüttelte ihn, dann legte sie ihn wieder auf den Boden, strich über ihre Arme und umarmte ihn dann. "Mama, das ist nicht witzig." Ich und Isegrimm wussten bereits dass sie tot war. Weder er noch ich hätten es ihr jetzt sagen können.

"Wach auf!" Sie liess den Körper los und richtete sich auf um ihn nochmal zu betrachten. Dann wurde es ihr klar.

Sie reagierte anders als ich erwartet hätte. Ich hatte gedacht, sie würde in Tränen ausbrechen und schreien. Stattdessen stand sie auf und ging mit zügigen, immer schneller werdenden Schritten in Richtung Stadt. Ihminen, sie wollte zu Ihminen. Oh Nein!

"Du kannst jetzt nicht einfach zu Ihminen gehen und die Namenlose wieder her holen. So geht das nicht.", ich folgte ihrem Schritt. "Doch das kann ich! Ich werde meine Mama wieder her holen."

"Du verstehst nicht, Ihminen tut nur das was Leviathan ihm befohlen hat und Leviathan wird dich umbringen, wenn du ihm in die Quere kommst.", ich trat vor Luci und hielt sie mit beiden Händen davon ab weiter zu laufen.

Es war das beste für alle, dass die Namenlose tot war. Aber das hätte ich nicht zu Luci sagen können, sie hätte es nicht verstanden.

Luci befreite sich aus meinem Griff und wollte weiter laufen. Ich versperrte ihr erneut den Weg.

Sie zog ihr Schwert.

"Was soll das?", fragte ich halb lachend, halb besorgt.

"Das könnte ich dich fragen.", zischte Luci.

"Du würdest mir niemals weh tuen. Komm wieder zu Vernunft."

Erneut versuchte sie an mir vorbei zu kommen. Ich nahm ihre Hand und versperrte ihr weiterhin den Weg.

Plötzlich fühlte ich einen stechenden Schmerz in meinem Arm. "Was?"

Kurz darauf versuchte Luci mich mit einem kräftigen Schlag auf den Kopf bewusstlos zu schlagen. Mir wurde ein bisschen schwindelig aber ich ging ihr nicht aus dem Weg. Mein Arm blutete stark.

"Luci, ich kann dich das nicht tuen lassen.", ich drängte sie ein Stück zurück und versuchte ihr das Schwert abzunehmen. Ich war noch zu benommen um anzugreifen.

Schmerz auf meinem Oberkörper und ich fiel nach hinten auf den Rücken. Mir war nie klar gewesen, wie schnell sie sich bewegen konnte. Ich blickte auf meinen Körper. Sie hatte mich aufgeschlitzt. Überall war Blut. Das letzte was ich sah ist dass sie fort rannte in Richtung Stadt. 

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