24. Abschnitt (15.3.6; Frühling; Aus der Sicht der Ratte)

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Das einzige Geschenk, das Hanna von mir annehmen würde, waren Blumen. Sie wusste, dass ich ihr niemals Schmuck oder Pralinen von meinem eigenen Geld hätte kaufen können. Mein eigenes Geld war geklautes Geld.

Gut 30 Namchen lang suchte ich auf den Wiesen ausserhalb der Stadt die schönsten Blumen die ich finden konnte, bis ich einen üppigen Blumenstrauss aus Mageriten, Veilchen, Mohn und Tulpen hatte.

Er war nicht so schön wie die Sträusse, die auf dem Marktplatz verkauft wurden.

Bevor ich zur weissen Villa aufbrach zog ich mich zuhause um, rasierte mich und wusch mich mit etwas Regenwasser, das ich immer mit einem grossen rostigen Eiseneimer auffing, welchen ich vor etwa einem halben Sandkorn gefunden hatte. Ich schnitt mir mit einer Schere, die ich aus der Schule geklaut hatte die Haare.

Dann zog ich mir meine besten Klamotten an: eine geflickte Jeans ohne Löcher und ein fast neues, noch kaum verwaschenes, beisches Hemd.

Hoffentlich sah das nicht albern aus. Wann war ein Strassenkind denn so gut angezogen?

Es war später Abend als ich vor ihrem Haus stand, tagsüber hätte ich mich nicht getraut ihr die Blumen zu überreichen. Was würden die Leute denken? Was würden ihre Freundinnen denken?

Klingeln wäre eine schlechte Idee gewesen, denn der Bürgermeister, Hannas Freunde und ein grosser Teil des Personals hätte mich gerne irgendwo eingespert und würden mir ganz sicher nicht helfen die Blumen zu Hanna zu bringen. Eigentlich war es ein Wunder dass ich bis jetzt noch nicht geopfert worden war.

Also kletterte ich auf einen Baum auf der anderen Seite des Hauses und klopfte vorsichtig an Hannas Fenster. Sie war nicht allein. Clarice schlief neben ihr im Zimmer. Mist.

Hanna wachte zuerst auf und öffnete das Fenster, so dass ich reinkommen konnte um ihr die Blumen zu überreichen. Einen wunderschönen Moment lang lächelte sie, teils kindisch, teils verlegen und doch so selbstsicher, wie ich es inzwischen von ihr gewohnt war.

Clarice schrie vor Schreck auf als sie mich im Zimmer erblickte.

Hanna, die schon damit gerechnet hatte, wie ihre Schwester reagieren würde sprang ein paar Schritte auf sie zu und erstickte ihren Schrei indem sie ihr die Hand auf den Mund drückte und "Shht." machte.

Dann warteten wir und waren still. Nichts zu hören. Anscheinend hatte der Schrei niemanden aufgeweckt. Glück.

Während sie sich aus dem Griff ihrer Schwester befreite fauchte Clarice sie leise aber wütend an: "Bist du verrückt? Was macht der hier?"

"Er hat mir Blumen gebracht." sie lächelte mich vielsagend an. "Und vielleicht wollte er mich noch etwas fragen?"

Clarice stand nur da, den Mund weit offen. In der Müdigkeit gefangen, fiel ihr nichts ein, was sie hätte sagen können, obwohl sie eigentlich lautstark protestieren wollte.

"Was sollte ich dich denn fragen wollen?" fragte ich spielerisch.

"Ich weiss nicht vielleicht.."

Sie ging auf mich zu.

"Vielleicht wolltest du dich ja mal mit mir verabreden?"

"Bist du dir da so sicher?"

"Naja, die meisten Jungen, die mitten in der Nacht in mein Zimmer einsteigen und mir Blumen bringen wollen das"

Wir mussten beide lachen. Es war einfach so absurd.

"Vielleicht bin ich ja nur hier hin gekommen um dir zu sagen.."

Ich ging ein paar Schritte aufs Fenster zu.

"Dass du das hübscheste Mädchen bist, das ich kenne."

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