Nach der Opferung gingen wir in unsere Zimmer und machten uns bettfertig. "Gute Nacht." sagte ich laut. "Gute Nacht" antwortete die Ratte, etwas weniger fröhlich als sonst. Nach einer Opferung waren wir beide meist nicht so gut gelaunt. Wir hatten zwar schon mehr als hundertmal zugesehen und die Opferungen waren für uns zur Routine geworden, aber es war immer noch ein unangenehmes Ritual.
"Du weisst, dass ich in ein paar Daniren das Ritual durchführen muss."
Nicht selten lagen wir nachts Danchenlang wach und redeten.
"Natürlich weiss ich das." In ein paar Monaten würde die Ratte 17 Sandkörner alt sein und zu einem vollwertigen Mitglied von Samjiva werden. Die Ausführung des Rituals gehörte dazu.
"Ich werde das nicht tuen."
"Was?"
"Ich werde das nicht tuen."
Seine Worte waren zu schockierend um sie direkt zu begreifen. Das konnte doch nicht wahr sein. Er konnte das doch nicht so meinen. Vielleicht könnte ich ihn zur Vernunft bringen?
"Aber du musst es tuen."
"Ich werde es nicht tuen."
Sie würden ihn verstossen. Sie würden ihn verletzen. Sie würden ihn töten.
"Was willst du dann tuen?"
Pause. Ich verstand warum er das Ritual nicht durchführen wollte.
"Wir sollten von hier fliehen."
"Was?" fragte ich laut und schockiert.
"Aber Mama und Isegrimm sind hier. Und hier ist mein Zuhause. Ich will nicht weg von hier."
Mein ganzes Leben hatte ich in den unterirdischen Gängen und im Wald gelebt. Ich kannte nichts anderes. Der Gedanken mein Leben hier gegen ein anderes, eins das mich zwingen würde immer wieder zu fliehen, vom einen lieblosen, fremden Ort zum anderen, zu tauschen, löste tiefe Furcht in mir aus. Wieso dachte die Ratte überhaupt an so etwas?
"Merkst du nicht wie krank das alles ist?"
Ich verstand nicht was er meinte. Wir hatten diese Diskussion schon ungefähr hundert mal gehabt. Das war unser Leben. Unser Zuhause, unsere Familie.
Als ich nicht antwortete sagte er:
" Schon klar. Du kannst es nicht besser wissen."
"Was ist krank?"
"Deine Mutter hat ihre Seele verkauft.
Deine Familie tötet Menschen. Sie foltern sie stundenlang und dann essen sie ihr Fleisch, ihre Knochen und ihre Seele." Er regte sich richtig darüber auf.
"Das findest du krank?"
"JA!"
Er redetete so als wäre das etwas das ich verstehen sollte. Etwas das jeder verstehen sollte.
Ich fand es unnatürlich wie sehr er sich gegen seine eigene Familie, gegen Samjiva sträubte. Trotzdem glaubte ich verstehen zu können, warum er so fühlte.
"Du musst mit mir mitkommen, dann kann ich dir zeigen wie ein normales Leben aussieht und du wirst verstehen warum wir hier weg mussten."
Pause.
"Ich kann dich hier nicht zurück lassen. Du bist meine beste Freundin."
Pause.
"Bitte, ich kann nicht ohne dich gehen."
Pause.
Meine Gedanken rasten. Verwirrt, vielfältig und schnell schossen sie durch meinen Kopf. Ich kann es nicht besser wissen? Krank? Seine beste Freundin? Flucht? Wohin? Wann? Würde ich mich von Mama verabschieden können? Würden sie uns finden und umbringen? Meine Gefühle für die Ratte zwangen mich über die Flucht als eine Möglichkeit nachzudenken. Aber es widerstrebte mir. Warum verstand ich das nicht?
Lange Pause.
"Ich muss darüber nachdenken."
Kurze Pause. Ja. Im Moment war das wohl die richtige Antwort.
"Gute Nacht."
"Nacht."
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Namenlos
HorrorIn mitten des Zeitensumpfes kämpfen Stadtbewohner um ihr Überleben und ihre Würde. Die Geschichte spielt in Novalis, eine Stadt die tief im Zeitensumpf verborgen ist. Als die Dunkelheit die Stadt an sich reißt, beginnt ein neues Zeitalter. Die Stad...