8.Abschnitt (6.14.5,5; Aus der Sicht von Isegrimm)

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Jagen ist das schönste, was sich ein Wolf vorstellen kann. Doch es hat mir mehr Spaß gemacht als ich jünger war und noch wilder. Als ich noch frei war und in meiner alten Heimat als Teil eines ebenso freien Rudels nur Tiere gejagt habe und nur um sie zu essen. Leviathans Meuten jagten sadistisch und sie jagten alles was sich nach Anbruch der Nacht nicht in die Sicherheit der Stadt gebracht oder gut genug versteckt hatte. Trotzdem, nach vielen Jahren hatte ich die Jagd so sehr vermisst dass ich anfing mit ihnen zu jagen. Es lag in meinem Blut, in meinem Herz. Die Jagd steckte in jedem meiner Knochen, in jedem Muskel. Und nachdem endlos viele Sandkörner verronnen waren, in denen ich nur noch alleine gejagt hatte, begann ich schließlich auch ab und zu mit Leviathans Meuten zu jagen. Es war nicht mehr wie es sein sollte, aber wie erschreckend das auch klingen mag: Es fühlte sich trotzdem besser an als alleine zu jagen.

Die Wölfe die Leviathan mit sich in den Wald gebracht hatte waren nicht frei, nicht Wolf. Sie lagen alle in Leviathans Bann. Das machte sie hungriger und aggressiver als richtige Wölfe es waren. Doch waren sie nicht hungriger nach Fleisch. Sie waren hungriger nach neuen Opfern. Diese Perversion war für einen Wolfsmenschen, der aus einem ehrenhaften Rudel wie dem meinen stammte, anfangs nur sehr schwer zu ertragen. Aber jetzt konnte ich keinem mehr etwas vormachen. Ich hatte mit der Meute gejagt und es hatte mir Spaß gemacht. So viel zu meiner Ehrenhaftigkeit. Nun weiß ich dass ich nicht mehr bin, wer ich einmal war.

Die Namenlose kam zu mir weil sie gehört hatte, dass ich anders war: Nicht wirklich Teil der Meute, nicht jede Nacht auf der Jagd, nicht auf die gleiche Weise von Leviathan gefangen wie die anderen es waren.

Anfangs hatte die Namenlose noch einen recht großen Teil ihrer Seele. Sie war verwirrend für mich, denn in vielen Momenten zeigte sie mir ihre menschliche Seite, etwas dass ich lange nicht mehr an anderen gesehen hatte. Ich wusste aus persönlicher Erfahrung dass es für ein Mitglied Samjivas nahezu unmöglich war, etwas wie eine menschliche Seite zu haben oder sie zu behalten. Und mir wurde recht bald klar, dass die Namenlose kein Ausnahmefall war und nicht so wie ich. Ihre menschliche Seite schwand mit der Zeit und sie gehörte immer mehr zu Samjiva, war bald schon nur noch Gefäß für Dunkelheit und Hass.

Was aber noch nicht zu Samjiva gehörte war das kleine Engelsmädchen, das sie adoptiert hatte. Nach einigen Sandkörnern fand sie keine Zeit mehr um sich um sie zu kümmern, weil sie jede Nacht mit der Meute jagte, wie es von normalen Mitgliedern Samjivas zu erwarten war. Also suchte sie mich auf um meine Hilfe zu erfragen. Sie wollte meine menschliche Seite auszunutzen. Letztendlich wollte sie das kleine Mädchen langsam in ein hasserfülltes Monster verwandeln, es sich selbst gleich machen, ein Plan der nur aufgehen könnte wenn sie geduldig war und das Kind vor der Meute schützte.

Ich war mir dessen bewusst als ich anfing Luci für sie zu füttern. Zwar hasste ich ihre Absichten, aber trotzdem wollte ich nicht dass das kleine Kind verhungerte. In diesem Wald waren schon genug gestorben. Die Namenlose hatte sich das richtige Opfer für ihre Manipulationsversuche ausgesucht.

Also brachte ich Luci an diesem Abend widerwillig und still eine Mahlzeit die ich tagsüber in der Stadt gekauft hatte. Ein kalt gewordener, gebratener Maiskolben, etwas Brot mit Käse und ein paar Bohnen. Die Namenlose hatte mir erst letzte Nacht über Lucis Lage Bescheid gegeben. Ich war überrascht als ich die Zimmertür aufschloss und ein halb verhungerter kleiner Engel mich direkt ansprang. Sie schnappte sich ihr Essen und verschlang es direkt vor meiner Nase. Ihr Gesicht war knochiger als erwartet. Die Namenlose hatte wohl schon etwas länger vergessen ihr kleines Monster zu füttern. Als sie fertig war, blickte sie von dem leeren Teller auf und sah mich an. Ich brummte verneinend. Sie war enttäuscht. Ich hielt es für besser keine Beziehung mit dem Kind aufzubauen, ich wusste nicht wie lange die Namenlose noch für es bürgen würde. Schon morgen könnte dieser kleine Engel Futter für die Meute werden. Das wäre nicht das erste Kind das die Namenlose gemeinsam mit anderen Mitgliedern von Samjiva verspeist hätte. Auch ich hatte auf der Jagd schon ein paar Kinder verspeist. Vielleicht wäre es sogar besser für das kleine Mädchen wenn es der Meute zum Fraß vorgeworfen würde.

Ich wollte die Tür zu machen. "Hat Mama dich geschickt?"

Dem kleinen Mädchen war nicht klar was für ein Monster sie gerade vor sich hatte. Und sie bezeichnete die Namenlose als ihre Mutter. Armes Kind. Wortlos schloss ich die Tür. Ich achtete peinlich genau darauf jedes an der Zimmertür befestigte Schloss zu schliessen. Morgen würde ich wieder kommen und dem Kind etwas mehr zu essen geben.

7.14.5,5 (nächste Nacht)

Dieses mal begrüsste mich Luci beinahe höflich bevor sie über die Hähnchenbrust, den Salat, die Brotschnitten und die halbfrische Kuhmilch herfiel wie ein wildes Tier. Zum Glück hatte die Namenlose einen kleinen Wasserhahn in ihrem Zimmer eingerichtet. Sonst wäre sie wohl schon lange verdurstet. Vielleicht hatte die Namenlose ja wirklich vor das Mädchen lange genug zu behalten um sie zu einem Mitglied Samjivas zu machen.

"Wie heißt du?", fragte sie.

Ich knallte die Tür laut hinter mir zu und beschloss für ein paar Tage nicht wieder her zu kommen.

11.14.5,5

"Hallo.", begrüsste Luci mich freundlich. Trotz ihres gewaltigen Hungers versuchte sie dieses mal langsamer zu essen damit sie sich während des Essens mit mir unterhalten konnte. "Ich heiße Luci. Wie heißt du?"

Lucifer. Sie war alles andere als das.

"Wie heisst duuu?"

Schmatzen.

"Mama bringt mir auch manchmal essen! Mama redet dann auch mit mir. Kannst du nicht reden?" Ja. Manchmal bringt sie dir etwas zum Essen.

Und ihr war nicht mal klar wie verantwortungslos...

"Kennst du Ronja?", sie holte eine kleine Holzpuppe aus ihrem Bett und streckte sie mir entgegen bevor sie sich wieder hinsetzte und weiter aß.

Nach zahlreichen Gesprächsversuchen von Luci schloss ich die Tür schon bevor sie fertig mit essen war, genervt und angestrengt von so viel Menschlichkeit. Ich würde versuchen die Namenlose zu überreden sich in Zukunft wieder selbst um ihre kleine Teufelsbrut zu kümmern.

2.15.5,5

Um einem Gespräch mit Luci dauerhaft aus dem Weg zu gehen brachte ich dieses mal einen ganzen Sack voll mit lang haltbaren Lebensmitteln: Konservendosen, Nüssen und rohen Nudeln. Ich öffnete ihre Tür und wurde angefallen. Ohne Aufforderung oder Anlass umarmte mich der kleine Engel, mit voller Kraft, als hätte sie schon erwartet dass ich sie wegschubsen würde. Unter den zahlreichen Pelzen die ich trug konnte ich den Druck ihrer Umarmung kaum fühlen aber er war da. Ich schüttelte sie unsanft ab und knurrte bissig. Dass dieses kleine Mädchen keine Angst vor mir hatte..

Ich beugte mich nach vorne und stieß ein tiefes, aggressives Knurren aus. Sie lief zu ihrem Bett und versteckte sich unter ihrer Bettdecke. "Mama hat gesagt, ich muss keine Angst vor dir haben! Ich muss keine Angst vor dir haben! Mama hat gesagt...."

Ich schleuderte den Sack in ihr Zimmer und drehte mich um um zu gehen. Für einen kurzen Moment unentschlossen warf ich einen kurzen Blick zurück zu Luci. Großer Fehler. Sekunden später klebte das kleine Mädchen schon wieder an mir. Sie knurrte: "Grrrr. Grrrr. Ich bin ein Wolf. Grrrr. Grrrrrrrrr. Alle müssen Angst vor mir haben!"

Ich schüttelte sie wieder ab und wollte gehen.

"Nein aber du kannst jetzt nicht gehen. Nicht bevor du mir versprochen hast morgen wieder zu kommen!"

Sie schlüpfte an mir vorbei durch die Tür hinaus. Mein Knurren half nicht mehr. "Warum?", brummte ich bei einem Versuch sie wieder einzufangen. "Weil ich morgen Geburtstag hab."

Nach drei eher halbherzigen, weiteren Versuchen beschloss ich dem flinken kleinen Teufelsbraten seinen Wunsch zu erfüllen und brummte: "Ok."

Widerstandslos ging der naive kleine Engel zurück in sein Zimmer und ich verschloss die Tür hinter ihr sorgfältig. 

NamenlosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt