Es war ein wunderschöner Morgen für Lintu. Sie lag in ihrem kuschelweichen Bett, den Kopf auf dem mit Daunen gefüllten Kopfkissen. Aus ihrem Fenster konnte sie direkt in den Park sehen. Der kalte, dunkle See glänzte im Licht der Sonne. Die Enten, gerade aufgewacht, zogen laut schnatternd Kreise auf der glatten Wasseroberfläche.
Lintu räkelte sich und gähnte bevor sie aufstand. Sie warf nur einen kurzen Blick in ihren Kleiderschrank und entschied sich heute ein rosanes Kleid zu tragen. Eins ihrer Lieblingskleider. Heute war Opta. Ein Blick auf die Uhr: 8:34. Noch etwa eine Danche bis der Unterricht begann. Um 9:00 wurde gefrühstückt. Sie ging ins Badezimmer um sich die Haare zu kämmen. Dabei sah sie in den Spiegel. Sie mochte ihre kurzen braunen Haare nicht. Genau so wenig ihr schmales Gesicht und ihre zierliche Statur. Sie wirkte so zerbrechlich. Ihre Augen waren schmal, mandelförmig. Nicht so sehr dass sie unnormal wirkten aber genug um Lintu zu stören. Ihre Augen waren dunkelbraun im gleichen Farbton wie ihre Haare. Lintu mochte diese Farbe nicht. Sie gab einen abwertenden Laut von sich und wandte sich vom Spiegel ab denn sie hielt sich für einen hoffnungslosen Fall.
Noch einmal blickte sie auf die Uhr: 8:54
Eilig verließ sie ihr Zimmer stürmte über die roten Teppiche die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Von dort aus weiter in den Flur, der ebenfalls mit einem roten Teppich bedeckt war, und dann ins Esszimmer: Ein großer geräumiger Raum in dessen Mitte ein dunkler Tisch aus Eichenholz stand.
An einem Tischende saß Ihminen, am anderen Puoliso. Rechts von Puoliso führte eine Tür zur Küche. Dort standen einige Bedienstete in schwarz-weißer Arbeitskleidung. Alle sehr ordentlich zu Recht gemacht und immer darauf bedacht ihren Arbeitgebern jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.
Der Tisch war reichlich gedeckt: Brötchen, Crossaints und Brot in den Körben, Wasser und Milch sowie Apfel- und Orangensaft in den Krügen. Den Brotaufstrich auf kleinen, handlichen Holzbrettern: Frischkäse, Schimmelkäse, Gouda, Ziegenkäse, Fleischwurst, Teewurst, Leberwurst, Schinken. Puoliso aß gerne Kaviar zum Frühstück.
„Setz dich" sagte Ihminen. Lintu setzte sich in die Mitte des Tisches wo für sie schon Besteck und Teller gedeckt worden waren. An den Wänden hingen Bilder von Ihminen, sehr viele sogar. Er ließ sich gerne malen. Lintu nahm sich eine Brötchenhälfte und schmierte Butter darauf. „Das Kleid steht dir gut" sagte Puoliso freundlich. Lintu lächelte. „Danke."
Sie wandte sich zu einer der Bediensteten. „Orangensaft, bitte" Ein junges Mädchen, kaum ein paar Sandkörner älter als Lintu kam von der Küche her und nahm den Orangensaft von Ihminens Seite des Tisches brachte ihn zu Lintu um ihr einzugiessen. Das Mädchen trug ihre glatten schwarzen Haare in einem engen, eleganten Dutt. Ihre grauen Augen sahen Lintu feindseelig an während sie ihr Glas füllte.
Das war die Tochter von Ihminens Schwester Veronika. Ihr Name war Mona. Nachdem sie Lintu eingeschenkt hatte stellte sie die Kanne zurück auf den Tisch. Sie warf Ihminen einen flüchtigen Blick zu und ging ein paar Schritte zurück zur Küchentür. Lintu nippte an ihrem Glas. „Sehr gut" sagt sie mit einer nickend lobenden Bewegung zu den Bediensteten. Sie wechselte noch ein paar Worte mit Puoliso, dann stand sie auf und begab sich wieder in den ersten Stock, ins „Lernzimmer".
Hier fanden montags bis samstags ihre Unterrichtsstunden statt. Ihre Lehrerin Miss Loran wartete bereits auf sie. Ihre beiden Töchter, Hanna und Clarice, die ebenfalls in der Villa wohnten waren auch schon da. Das „Lernzimmer" sah ähnlich aus wie ein normaler Klassenraum an einer öffentlichen Schule. Bloß dass nur 4 Schreibtische mit Stühlen für die Schüler und einer für Miss Loran bereit standen.
Hanna war die ältere Schwester. Sie hatte lange braune Haare über die sie sich jeden Sonnengang erneut lautstark aufregte weil sie sie mit keiner Haarbürste bändigen konnte. Sie sahen immer irgendwie struppig aus. Anders als Miss Loran waren ihre Gesichtszüge eher grob, nicht auf eine hässliche oder unattraktive Art aber auch nicht unbedingt hübsch.
Hanna war der komplette Gegensatz zu Clarice. Clarice war ein halbes Sandkorn jünger als Hanna. Sie war schmaler und zierlicher, ohne dabei so zerbrechlich zu wirken wie Lintu. Ihr hellblondes Haar war fein und fiel scheinbar immer richtig. Ihre Schönheit stach diekt ins Auge.
Miss Lorans Haar war nicht so dunkel und dick wie Hannas Haar, aber auch nicht so fein und hell wie Clarice. Sie trug einen schwarzen Rock mit Strumpfhose, dazu einen dünnen braunen Pullover.
Lintu war die älteste Schülerin in der Klasse. Trotzdem war sie kleiner, schmaler und wirkte zerbrechlicher als die anderen. Das hasste sie.
Clarice und Hanna stritten sich. Als Lintu den Raum betrat hörten sie für einen Moment auf: „Guten Morgen" grüßten sie durcheinander. „Guten Morgen" erwiderte Lintu lächelnd und setzte sich neben Clarice. Linda fehlte noch. Sie wohnte nicht in der Villa. Ihre Eltern waren sehr reich. Deshalb pflegte Ihminen einen guten Kontakt mit ihnen und Linda durfte an Lintus Privatunterricht teilnehmen.
„Hanna behauptet mein Eisbärenmäppchen sieht aus wie ein Hund!" erzählte Clarice Lintu. „Das ist ja auch ein Hund!" sagte Hanna laut. Clarice wandte sich entnervt wieder ihrer Schwester zu: „Nein!" Dann drehte sie sich zu Lintu: „Was meinst du?" Lintu nahm das Mäppchen in die Hand und strich über das weiche Fell. Sie betrachtete die schwarzen Augen, die runden Ohren, die Tatzen. „Das ist ein Eisbär." Sie legte ihn zurück. „Sag ich doch!" keifte Clarice. Hanna verdrehte die Augen: „Ihr seid beide blind." Linda betrat den Raum und setzte sich rechts neben Lintu. „Entschuldigung dass ich zu spät bin" sagte sie zu Miss Loran. Ihr Gesicht war rot und sie atmete recht schnell.
„Guten Morgen" sagte sie zu Lintu, Clarice und Hanna gewandt. Miss Loran ging vor der Tafel hin und her. „Lasst uns anfangen."
Als der Unterricht vorbei war gingen die vier zusammen in den Park vor der Villa. Sie ließen sich auf einer Parkbank nieder und aßen jeder ein Eis aus der Waffel. Sie redeten darüber was sie machen würden, wenn sie ihre Schulbildung abgeschlossen hatten. Linda wollte Lehrerin werden wie Miss Loran. Clarice und Hanna fanden das schrecklich. Sie wollten auf gar keinen Fall später das gleiche machen wie ihre Mutter. Clarice wollte Mode designen, Hanna wollte Ärztin werden. Lintu wusste noch nicht was sie später machen wollte. Es war ihr aber eigentlich gar nicht so wichtig im Moment. Als sie fertig mit dem Eis waren überredete Clarice alle zurück in die Villa zu gehen wo Clarice mit Hannas Hilfe ein Outfit für jedes der Mädchen aus ihren Kleiderschränken zusammenstellten.
Am Abend ging Linda nach Hause. Hanna und Clarice gingen zum Abendessen mit ihrer Mutter. Lintu ging wieder in den Essenssaal wo der Tisch schon reichlich gedeckt war. Puoliso und Ihminen saßen bereits dort und aßen. Puoliso fragte Lintu wie ihr Tag war. „Gut" sagte Lintu mit einem Lächeln. Ihminen verschlang gierig Brot, Hähnchenschenkel und Bier, als hätte er heute irgendetwas anstrengendes gemacht.
Das Bier war nur für ihn gedeckt worden. Puoliso und Lintu tranken nicht. „Nichts ist so gut wie Essen nach einem langen Tag" lachte Ihminen in Lintus Richtung und spuckte dabei. Lintu wich seinem Blick höflich aus und sagte nichts. Ihminen lachte laut und angetrunken. Sein Mund war übervoll und er grinste so breit dass seine Augen schlitzartig klein wirkten.
Als Lintu fertig gegessen hatte bedankte sie sich beim Personal und ging in ihr Zimmer. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Der Sichelmond spiegelte sich im See wo die Enten schliefen. Sie duschte, putzte ihre Zähne, zog sich ihr Nachthemd an: weiß, knielang. Sie legte sich ins Bett und wartete.
Ein paar Minuten später klopfte es an der Tür. Lintu zitterte als sie aufstand und zur Tür ging. Sie wusste dass es nicht helfen würde, wenn sie nicht aufmachte. Er würde so oder so rein kommen.
Ihminen trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Du hast sicher schon auf mich gewartet!" lallte er. Lintu ging ein paar Schritte zurück, schwankend folgte er ihr.
„Taubenfick." Er zog ihr Nachthemd nach oben und lachte. Lintus Gesicht wurde ausdruckslos. Sie schloss ihre Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. An einen anderen Ort, ganz weit weg von hier. Er schubste sie. Sie fiel unsanft auf den Boden. Dort nahm sie die gewohnte Stellung ein. Ein paar Sekunden später spührte sie einen harten Schlag auf ihren Hintern. Nicht weinen, das mag er. Nicht schreien, nicht flehen, nicht versuchen zu entkommen. Sie kratzte mit ihren Händen über den Boden. Sie spannte sie so sehr an, dass der Schmerz fast so groß wurde wie...
Als er fertig war ging er, ohne ihr noch weitere Beachtung zu schenken. Lintu blieb ein paar Minuten liegen und starrte an die Decke. Dann stand sie auf und legte sich zittrig ins Bett. Sie versuchte zu schlafen. Sie wusste, sie würde in dieser Nacht von Albträumen verfolgt werden.
DU LIEST GERADE
Namenlos
HorrorIn mitten des Zeitensumpfes kämpfen Stadtbewohner um ihr Überleben und ihre Würde. Die Geschichte spielt in Novalis, eine Stadt die tief im Zeitensumpf verborgen ist. Als die Dunkelheit die Stadt an sich reißt, beginnt ein neues Zeitalter. Die Stad...