Ich hatte nicht einmal geblinzelt und der Junge war verschwunden; wie ein Blitzschlag, einfach weg.
"James!", schrie ich nun, drehte mich verzweifelt im Kreis, doch er war nirgends zu sehen.
Mein Kopf spielte mit mir, ich halluzinierte, aber dennoch wollte ich das nicht akzeptieren. "Ich weiß dass du hier bist!"Er war schon seit zwanzig Jahren tot, sein Körper war höchstwahrscheinlich völlig verrottet. Meine Brauen zogen sich einander. Niemand hatte an seiner Beerdigung Teil genommen, oder auch nur sein Grab besucht. Was ist, wenn er..? Nein. Das erklärt nicht wie er vor meinen Augen verschwunden ist. Vielleicht war das vielleicht sein Geist? Ich spinne eindeutig. Er hatte auch keinen Zwilling, geschweige denn Geschwister.
Mir war es egal ob ich verrückt wurde. Ich glaubte meinen Augen. Das war James gewesen. "Zeig dich nicht, aber hör mir zu."
Ich schluckte den Kloß runter und ballte die Hände zu Fäusten. "Alles was ich dir damals gesagt habe, waren die Worte eines unreifen Jungen, der nur eifersüchtig auf dich war. Du bist kein Egoist, bist es auch nie gewesen. Ich war es der nur an sich dachte und seinen Stolz nicht unter die Füße nehmen konnte. Ich habe mich geändert, James. Ich bin nicht mehr der alte Henrik. Ich habe so vieles hinter mir..."
Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich sackte zu Boden. "Ich habe dein Leben ruiniert, aber mit dem Leben meiner Frau bezahlt. Mein Sohn wurde mit drei Jahren von seiner Mutter getrennt. Du kannst dir nicht vorstellen wie schwer das für mich war. Ich versuche mir seit ihrem Tod immer einzureden dass dies die Strafe für meine Sünden war, doch mir wird erst jetzt klar, dass ich nicht genug gelitten habe um es deinem Leid gleichzustellen."
Ich richtete meine Blicke auf seinen Grabstein und sprach weiter. "Sage mir ich soll mich hier und jetzt umbringen und ich werde es tun."
"Sind deine Schuldgefühle so schlimm geworden?", hörte ich eine Stimme von hinten und rappelte mich sofort auf und blickte in die Richtung der Stimme. Niemand zu sehen. "James! Wo, wo bist du?"
"Im Sarg, wo denn sonst? Sprichst du ernsthaft mit einem Toten? Wie ironisch... und ich dachte immer ich wäre der Irrer."
"James, ich flehe dich an! Zeig dich mir noch ein letztes Mal!"
"Warum sollte ich dir ein zweites Mal vertrauen?"
"Ich... Ich möchte dir helfen." Ich sah mich weiter um in der Hoffnung er würde sich mir zeigen, doch es war vergebens.
"Mir kann niemand helfen."
"Woher willst du das wissen? Ich werde alles tun was du von mir verlangst."
James erschien plötzlich vor meinen Augen. "Alles?"
"J-ja...", stotterte ich verblüfft.
Er kam näher. "Würdest du sogar deinen Sohn töten?"
Mir entfloh der Sauerstoff aus den Lungen. "Warum würdest du das wollen?"
"Warum denn nicht? Ich bin doch ein Irrer. Man fragt verrückte Menschen nicht nach ihren Taten."
"Du bist nicht verrückt.", beharrte ich. "Aber nein. Ich würde Sam niemals für meine Angelegenheiten auch nur ein Haar krümmen."
"Sam? Moment, Sam ist dein Sohn?"
"Du kennst ihn?" Nun war ich völlig durcheinander.
James streifte mit der Hand durch seine kohlenschwarzen Haare. " Sag diesem Typen, er soll fern von Alia bleiben. Das ist alles was ich von dir will und wenn du's schaffst, dann lass ihn sie nicht einmal angucken. Seine Blicke sind widerlich."
Mein Kopf drehte sich. Dies war der Moment wo die Teile alle zusammenpassten und das Gesamtbild vollendet wurde. Der Junge in der Aufnahme sah nicht nur so aus wie James, sonder er war James höchstpersönlich und dies war keine Einbildung. Er stand in Fleisch und Blut vor mir.
"Du hattest nie geträumt. Das Mädchen aus deinen Träumen..."
"Du kennst Alia nicht einmal. Wovon redest du da?", wollte James wissen und sah in meine Richtung.
"Doch ich kenne sie. Ich habe sie schon einmal im Revier mit Sam gesehen und heute Morgen..."
"...'heute Morgen', was?", drängte er.
Ich schüttelte den Kopf. "Ich mach es kurz und knapp. Sam ist Alia auf der Spur. Er hat gestern sogar eine Kamera im Wohnzimmer versteckt um Hinweise auf seine Fragen zu finden. Heute morgen hab ich mit ihm die Aufnahmen--"
James hockte zu Boden und hielt sich den Kopf. "Man hat mich auf der Aufnahme gesehen, nicht?"
"Ja, aber es war völlig verschwommen. Man konnte nicht richtig erkennen wer die Person neben Alia ist, aber jetzt bin ich mir sicher dass du das warst."
"Kann ich dich um einen zweiten Gefallen bitten?"
"Nicht nötig. Er hat vor Wut die Aufnahme gelöscht."
James atmete erleichtert aus und legte den Kopf schief. "Das mit dem 'würdest du deinen Sohn töten' war nur aus Neugier gewesen. Ich wollte wissen wie besessen du bist, aber jetzt fange ich ernsthaft an es in Frage zu stellen."
"Ich werde von hier fort ziehen und er wird Alia niemals zu Gesicht bekommen. Mach dir keine Sorgen."
"Das würdest du wirklich tun? Aber wie denn?"
"Ich bin ein Polizist. Es wird nicht das erste Mal sein dass wir wegen meiner Arbeit umziehen."
"Verstehe, danke." James sah zu Boden und starrte gedankenverloren auf seinen Grab. Er tat so, als ob ich nicht weiter neben ihm stehen würde.
"Mit wem hast du eigentlich geredet bevor ich gekommen bin?", fragte ich neugierig und hockte mich neben ihn hin.
"Ich weiß es selber nicht.", beichtete James. "Ich weiß nur dass es etwas gibt was mir die Chance gegeben hat in dieser Zeitspanne Alia zu treffen indem mir dieser Körper verleiht wurde. Ich habe gestern Nacht eindeutig gegen das Gesetz verstoßen und jetzt kann ich nur noch auf Verzeihung hoffen, oder mein Schicksal akzeptieren."
"Was wäre das denn?"
"In den Abyss der Dunkelheit zurückkehren und Alia in dieser Welt zurücklassen, ohne zu wissen ob ich sie jemals wieder sehen kann."
Plötzlich war ein Lachen zu hören. "Sie wieder sehen? Ach, du hast noch Hoffnung? Ich werde ihr das Leben zur Hölle machen während du in deinem Grab verrottest."
Ich sah niemanden, doch James starrte mit weit aufgerissenen Augen über seinen Grabstein hindurch. "Ormond...", fiel es ihm über die Lippen. "Das wagst du nicht."
Das Lachen wurde noch lauter. "Hab ich aber schon."
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Das Erwachen
Paranormal"Ist es wirklich so auffällig dass ich Menschen nicht leiden kann?" "Nein, überhaupt nicht. Du siehst sie bloß so an als ob du ne Zitrone gegessen hättest.", meinte er und fing die Klinge auf, welche sich kurzzeitig in der Luft gedreht hatte. Mein...