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Meine Füße bewegten sich von allein, doch meine Knochen wurden zu Stahl, was mich förmlich auf den Boden verankerte. Ein Schritt kostete mich umso mehr Kraft.

"Wohin willst du denn?", fragte er. Das Grinsen auf seinem Gesicht erlosch; so wirkte er nur noch furchteinflößender als zuvor.

Ein lauter Schrei schrillte mir aus der Kehle. Ich drehte mich um, versuchte loszurennen, doch ehe ich mich versah, hatte er mich schon am Arm gepackt und zog mich zu sich.

Mein Rücken prallte gegen seine breite Brust. Sein strenger Mundgeruch wühlte mir den Magen auf. "Hilfe!", schrie ich ein letzes Mal, bevor er mir die schmutzige Hand gegen den Mund presste.

"Ganz ruhig, Kleine. Es wird dir nicht weh tun.", machte er mir klar, als er die kalte Seite des Messers gegen meinen Hals presste. "Natürlich nur, wenn du dich nicht wehrst."

Ich spürte wie er seine Hand von meinem Mund entfernte und es unter meine Bluse schob. In dem Moment erstarrte ich zu Stein. Mir war es lieber zu sterben; eindeutig.

Ich wirbelte herum und befreite mich von seinem Griff. Das Brennen der Schnittwunde an meinem Hals zu ignorieren wurde immer schwerer.

"Du bist umzingelt!", hörte ich eine Gruppe von Männern schreien.

"Was zum..." Der Mann sah sich panisch um. Die Polizisten hinter ihm kamen immer näher auf uns zu. Nach wenigen Sekunden gab es nur wenige Meter zwischen uns und den Polizisten.

"Legt ihn auf den Boden!"

Ich presste meine Hand noch döller gegen meinen Hals. Die Tränen ließen meine Sicht unklarer werden. Würde ich jetzt sterben?

"Alles okay mit dir?", fragte eine Person neben mir. Er war kein Polizist, sondern ein Junge, der viel jünger als David aussah.

Ich schüttelte verneinend den Kopf und nahm die Hand von der Wunde weg. Er sah sich die Stelle genau an und runzelte die Stirn. "Es ist nicht allzu tief, nur ein kleiner Kratzer.", vergewisserte er mich und lächelte.

Lügner...

"Sam! Ich habe es dir doch verboten bei unseren Missionen--", schimpfte ein Polizist aus der Gruppe, doch wurde von dem Jungen neben mir unterbrochen. "Ich weiß, Dad. Aber ohne mich hättet ihr diesen Mörder auch niemals gefunden."

Sein Vater seufzte und kam zu uns. "Was hat er dir getan?"

"Nichts.", kam es kleinlaut von mir.

"Nichts?", hakte er nach und schob meinen Kopf zur Seite, sodass er die Wunde besser betrachten konnte. "Sieht man. Sam, bring du sie zur Krankenstation, wir kümmern uns um den Rest."

"Geht klar." Sam legte seine Hand auf meinen Rücken und schob mich leicht vor. "Lass mich!", fauchte ich und sah ihn giftig an. "Ich kann alleine gehen."

Als wir aus der Gasse raus waren und ich endlich den Fußgängerweg sehen konnte, ließ ich die angehaltene Luft in meinen Lungen frei. "Ich geh nicht ins Krankenhaus. Du wirst deinem Vater sagen ich wäre mit dir mitgekommen, verstanden?"

Sam hob die Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust. "Warum sollte ich das? Wir müssen überprüfen ob er dir noch weitere Verletzungen zugefügt hat. Außerdem..."

Ich schnitt ihm wütend das Wort ab. "Sie werden meine Familie kontaktieren und wenn meine Pflegeeltern rauskriegen was mir widerfahren ist, werden sie mich nie wieder alleine rausschicken."

Er lachte in sich hinein und lächelte zufrieden. "Ist doch gut so."

"Ist es nicht!", kreischte ich aufgebracht und ballte die Hände zu Fäusten.

"Okay, ganz ruhig, Süße."

Ich konnte mich nicht beherrschen und klatschte ihm eine. "Nenn mich nicht so!"

Er hielt sich die Hand an die glühende Wange und blickte mich bestürzt an. "Was ist eigentlich dein Problem?" Nun klang er ziemlich gereizt.

Mein Rücken lehnte sich gegen die steinerne Wand des Hauses und ich sackte auf dem Boden ein. "Menschen.", hauchte ich. "Die sind mein Problem."

Er hockte sich neben mir auf den Boden und atmete tief ein. Die goldenen Strahlen der Sonne schienen durch seine Locken, was das helle Blond seiner Haare zu einem Weiß verwandelte. Seine rechte Wange war rot angeschwollen. Beschämt beugte ich den Kopf vor. "Es tut mir leid."

"Nicht doch.", sagte er. "Sag du mir lieber, was du alleine um diese Uhrzeit auf den Straßen verloren hast."

Ich sah ihn erneut an. "Wie bitte?"

"Du solltest normalerweise in der Schule sein. Es ist Montag und ich kann mich nicht daran erinnern dass heute ein Feiertag ist."

Ich zuckte die Schultern und legte den Kopf in den Nacken. "Ich fange erst nach den bevorstehenden Sommerferien mit der Schule an. Was ist mit dir?"

"Warum denn das?" Er lehnte sich ebenfalls gegen die Wand und richtete seine dunkel grünen Augen auf meine.

"Beantworte erst meine Frage."

"Ich hab's nicht so mit der Schule. Es ist sowieso mein letztes Jahr, da helf ich lieber meinem Vater.", meinte er und sah auf unsere Füße hinab. "Jetzt bist du dran. Los, erzähl schon."

"Ich hab's auch nicht so mit der Schule.", entgegnete ich ihm und lächelte.

"Das ist unfair. Du kopierst einfach meine Antwort.", beschwerte er sich und rieb seine Wange. "Du bist mir was schuldig, das weißt du, oder?"

"Warum denn das?"

Sam deutete auf seine Wange. "Wegen dir hab ich jetzt eine rote Ampel im Gesicht."

"Gut, was willst du?"

"Keine Ahnung. Was kannst du denn?"

"Zeichnen." Ich legte meinen Rucksack auf meinen Schoß und nahm den Notizblock raus. "Sind wir quitt wenn ich dich zeichne?"

Neugierig beugte er den Kopf auf das leere Papier. "Kommt drauf an wie gut du zeichnest."

Ohne ihn weiter sprechen zu lassen begann ich ihn zu zeichnen. Ich fing mit seinen Locken an, fügte die Gesichtsumrandung hinzu, doch bekam es einfach nicht so hin wie ich wollte.

Als ich das Ergebnis sah zogen sich meine Augenbrauen tief einander. "Sorry, das..." Ich riss die Seite raus und wollte es zusammenknüllen, da nahm er mir die Zeichnung aus der Hand.

"Spinnst du? Das sieht super aus! Doch ich dachte du wolltest mich zeichnen. Wer ist denn der Junge auf dem Bild?", fragte er verwirrt und betrachtete die Zeichnung.

"James...", murmelte ich.

"Wie bitte?" Er hatte mich nicht gehört.

"Niemand." Ich versuchte Sam erneut zu zeichnen, doch am Ende kam immer wieder nur James Portrait raus.

Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Was war los mit mir?

"Hey, alles okay?", wollte Sam wissen, der mich besorgt musterte.

"Ja." Ich fuhr mir mit der Hand durchs schulternlange Haar.

"Ich hätte nie gedacht dass du mich so schnell ersetzen würdest."

Meine Pupillen wurden winzig vor Schock. Das war James' Stimme.
Mein Kinn drohte auf den Boden zu stürzen. Zitternd wandt ich den Blick von meinem Notizblock ab und erblickte James, der direkt vor uns stand.

Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt