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Ich sah an mich herab, doch nichts hatte sich verändert. "Was meinst du?"

Er versuchte sich aufzurappeln; Blut sickerte über seine Haut. Ich hielt ihn auf und zerrte seinen Kopf erneut auf meinen Schoß. Noch nie hatte ich ihn so verzweifelt gesehen. "Ich würde es mir niemals verzeihen.", sprach er zu sich selbst und presste sich seine Hand gegen den Mund; dicke Tränen fielen über seine Wangen, die ich mit meinen Daumen wischte. "Wenn du wirklich gestorben bist..." Weiter kam er nicht.

Zuerst bekam ich Gänsehaut bei dem Gedanken gestorben zu sein, doch es dauerte nicht lange und ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit. "Heißt das, ich kann meinen Bruder wiedersehen? Meine Mutter, meinen Vater... Heißt das, dass ich von nun an...", ich stoppte. Denn er hatte mich so angesehen, dass ich selbst Mitleid mit mir hatte.

Wie konnte sich ein Mensch so sehr auf seinen Tod freuen? Ich hatte mir seit dem Tod meiner Familie immer versucht einzureden dass es weiter gehen musste, dass ich Glück hatte überlebt zu haben, jedoch wurde mir erst jetzt klar dass ich schon viel früher aufgeben könnte mit diesen Lügen weiterzuleben.

"Alia...", wisperte er schon fast. "Du solltest dich nicht darüber freuen. Das darfst du einfach nicht." Er umfasste meine Hände und richtete seine Augen auf meine. "Ich will dass du lebst."

Ich schüttelte verneinend den Kopf. "Wenn ich wüsste dass es so leicht ist zu sterben, dann hätte ich das auch früher getan."

"Das ist es aber nicht. Es ist nicht leicht mitanzusehen wie niemand zu deiner Beerdigung kommt. Dass jeder, den du glaubtest zu mögen, eins zwei Tage Tränen vergießt, dich dann aber für alle Ewigkeit vergisst. Es war so, als ob ich als ein Nichts geboren und als ein Nichts gestorben wäre; als hätte ich nie existiert." Er presste seine Lippen gegen meine Hände und mir stockte der Atem. "Werde nicht so wie ich. Isoliere dich nicht von deiner Welt. Gib den Menschen eine Chance und viel wichtiger... Gib dir eine Chance, Alia."

"So wie du kein zweites Mal sterben kannst, kann ich auch kein zweites Mal leben, James."

"Nur, wenn du auch wirklich gestorben bist."

* * *

Als ich mir sicher war das seine Wunde geheilt war, standen wir auf und ich rieb mir die blutige Hand gegen die Mauern bis sie völlig mit Dreck beschmiert war und man das Blut nicht mehr erkennen konnte.

Wir gingen zwar auf der Straße entlang die nur so von Menschen wimmelte, doch niemand bemerkte uns. Ich war unsichtbar, so wie ich es eigentlich immer gewesen bin. "Du schummelst.", bemerkte James.

Ich hob eine Braue. "Was soll das denn heißen?"

"Sprich jemanden an."

Ich schwieg und James, der mich noch immer mit seinen Blicken unter Druck setzte blieb plötzlich stehen und umfasste meine Schulter; deutete auf ein Mädchen, die auf einer Bank saß. "Komm schon."

Schnaubend ging ich auf sie zu und als ich neben dem Mädchen stand, sah sie noch immer auf ihr Handy. Ich holte tief Luft und tippte ihr auf die Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren. "Ja?", fragte sie verwirrt.

Enttäuscht wandte ich den Blick von ihr ab und sah zu Boden. "Ich wollte nach der Uhrzeit fragen." Eine warme Flüssigkeit lief mir über die Wange, die ich verblüfft versuchte mir aus dem Gesicht zu wischen, aber die Tränen waren hartnäckiger als gedacht.

"Es ist 13.15 Uhr.", sagte sie, doch stand plötzlich auf. "Ist alles okay mit dir?"

Ich lächelte sie an, doch meine Augen reflektierten es nicht. "Ja, alles bestens. Vielen Dank."

* * *

"Ich könnte hier runter springen.", schlug ich vor. Unsere Beine baumelten über die Steilküste; der Wind wehte in alle Richtungen und die Wellen peitschten wild gegen die Felsen.

"Das ist nicht lustig.", merkte James an und  setzte sich hinter mich hin, schlang die Beine um mich und vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Er hatte mich so im Griff, dass es unmöglich war sich von ihm zu lösen. "Wir sollten rauskriegen was mit dir passiert ist. Am Leben bist du zwar, aber...", stellte James fest, doch kam nicht weiter.

"Du sagtest ich könnte eine von euch werden. Du hast mir Aufträge gegeben, mich glauben lassen, ich könnte dieser Realität entfliehen und jetzt kommst du mir mit so was; behauptest ich müsse sterben um dir in die Augen sehen zu können, dass es sonst keine andere Erklärung geben könnte, doch hier stehe ich, unversehrt."

"Du würdest eines Tages sterben und ich wollte dich auf dem Weg zu deinem Tod begleiten. Je näher du diesem Tag kommst, desto mehr würdest du uns ähneln und dann, wenn der Tag gekommen wäre, wärst du nun völlig eine von uns und ich könnte mit dir eine Ewigkeit verbringen."

"Was wenn ich am Ende trozdem keine von euch werde?"

"Das wird nicht passieren." Er klang entschlossen, völlig überzeugt von dem was er sagte.

"Und warum nicht?"

"Weil deine Seele nicht eingefangen in einen Sarg gehört, sondern zu mir." Sein Körper zitterte, obwohl er seine Angst nicht in seiner Stimme hören ließ. Er umarmte mich noch fester und drückte seine Lippen gegen meinen Hals.

Ich legte meine Arme über seine und presste sie noch dichter an mich. "Dann hol dir eben was zu dir gehört."

Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt