Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)

Szene ①

Es war kurz nach neun am Montagmorgen und die Freunde hatten sich in der ersten Pause in einem der oberen Klassenräume zusammengefunden.

Jasper sah enorm müde aus. Er hatte gestern nicht einschlafen können, nachdem er das leere Bett von Lani vorgefunden hatte.

Seinen Freunden hatte er bereits über WhatsApp davon berichtet, immerhin hatte er in den Stunden, in denen er unfreiwillig wach gelegen hatte, Zeit zum Grübeln gehabt.

Benno, Fria und Lilia sahen ein wenig ausgeschlafener aus als er, doch auch ihnen stand die Sorge ins Gesicht geschrieben. Wohin war das kleine Mädchen gestern Nacht verschwunden?
„Also nochmal langsam Jasper. Erzähl uns, was passiert ist", forderte Fria ihren Freund auf und trank einen Schluck ihres mitgebrachten Kaffees. Ohne diesen verließ sie morgens nicht das Haus.

Jasper seufzte. Er wollte eigentlich nicht schon wieder daran erinnert werden, aber für seine Freunde erzählte er die Geschichte trotzdem nochmal. „Ich bin in Lanis Krankenhauszimmer gegangen und sie war verschwunden. Wahrscheinlich durch das Fenster, denn das hat offen gestanden. Das habe ich bei einer Krankenschwester gemeldet und meinen Vater angerufen. Als er ankam, hat er mich nach Hause geschickt." 

„Hast du später noch mit ihm gesprochen? Hat die Polizei eine Spur?" Benno klopfte ungeduldig auf den Tisch, auf dem er im Schneidersitz saß. Er schien seine Fingerfertigkeiten herauszufordern, denn statt einfach alle zehn Finger nacheinander auf das Holz schlagen zu lassen, benutzte er nur jeden zweiten, änderte beim Daumen die Richtung und schlug Zeigefinger und Ringfinger schlussendlich gemeinsam auf.

Jasper konnte nur immer wieder über das Talent des jungen Pianisten staunen. Doch gerade hatte er keine Zeit dafür.

„Als mein Vater nach Hause kam, wollte ich mich mit ihm unterhalten, aber er zwang mich dazu, ins Bett zu gehen. Heute Morgen war er schon weg. Ich versuche es nachher nochmal."
„Denkt ihr, Lanis Verschwinden hängt mit Maleas Verletzung zusammen?" Lilias Stimme war fast schon unerträglich leise als sie dies sagte. Sie saß neben Benno auf dem Tisch, hatte die Beine angewinkelt und aß sterbenslangsam ein Schoko-Croissant.

Jasper hatte bis eben nicht an eine Verbindung gedacht, aber jetzt wo Lilia es sagte, könnte sie damit schon richtig liegen. Immerhin hatte eine fremde Person Malea mit in den Wald genommen und sie dort sterbend zurückgelassen.

Auch Fria schien darüber nachzudenken. „Du hast recht Lil. Erst wurde Mal entführt und nun die kleine Lani. Womöglich läuft ein Killer frei rum."

Fria liebte es, Spitznamen für ihre Freunde zu verwenden. Malea hatte sich vor Jahren mehrere für jeden von ihnen ausgedacht und Fria ihre liebsten übernommen. Malea wurde zu Mal, Jasper zu Jas, Fria zu Fri und Lilia zu Lil. Nur bei Benno fanden sie, dass sein eigentlicher Name besser klang als der mögliche Spitzname. Deshalb ließen sie ihn weg.

Der junge Pianist wirkte wenig überzeugt von Frias Argumentation hinsichtlich einer Verbindung. „Übertreibt mal nicht. Wir wissen immer noch nicht, ob Malea entführt wurde. Vielleicht ist sie einfach spazieren gegangen und dann gestürzt. Und Lani muss auch nicht weg sein. Vielleicht ist ein Familienmitglied aufgetaucht und hat sie mitgenommen."

„Ohne jemandem Bescheid zu sagen?"

Benno zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung was passiert ist. Ich finde nur, dass wir nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen müssen."

Fria nickte. „Da stimme ich dir zu. Wir sollten positiv bleiben."

Während Benno sie dankbar anlächelte, begannen Lilia und Jasper zu lachen. Wenn man die Gruppe in Pessimisten und Optimisten aufteilen würde, standen Jasper und Lilia definitiv auf der dunklen Seite, während Benno, Fria und Malea auch an Regentagen auf die Sonne warteten.