Szene ⑥

31 11 6
                                    


Auch über eine Stunde später saßen die vier noch zusammen im Baumhaus. Fria war in all ihrer Aufregung eingeschlafen und hatte ihren Kopf auf Lilias Schulter gebettet. Auch die junge Autorin ruhte.

Jasper sah aus dem Fenster in die sich ausbreitende Dunkelheit und Benno zockte Piano Tiles 2 auf seinem Handy.

„Es ist so weit. Wir gehen", flüsterte Jasper.

Benno ließ der leise Laut aufblicken, doch sowohl Lilia als auch Fria rührten sich nicht.

„Hey." Benno berührte Lilia leicht an der Schulter. „Du musst aufwachen, wir gehen." Sofort flatterten Lilias Augenlieder nach oben. „Bin wach."

Fria zu wecken, war ein längerer Prozess. Sie schien wirklich schon tief im Traumland zu stecken. Als sie doch endlich die Augen aufschlug, hörte man ein: „Das kannst du doch nicht machen!" Den Satz musste sie wohl im Traum zu jemandem gesagt haben. Oder sie beschwerte sich bereits darüber, dass Benno sie geweckt hatte.

„Fria wir müssen los. Sonst fragen sich Kai und Emil noch, wo ihre Schwester bleibt."

„Aber ... deine Schulter ist so gemütlich!" Fria versuchte, Lilias Arm zu packen und sie wieder neben sich zu setzten.

Jasper stand bereits an der Luke und war zum Abmarsch bereit. Er hatte eine Stunde aus dem Fenster gestarrt. Er wollte nicht mehr warten. Er wollte nach Hause! 

„Fria komm jetzt. Sonst lassen wir dich allein zurück und der Mörder kommt dich holen."

Sofort war Fria hellwach. Sie stand auf, schnappte sich ihren Rucksack und ging zu Jasper an die Luke.

Lilia sah zu Benno. „Das war gemein, aber dennoch effektiv."

„Los jetzt, sonst lässt Jasper uns wirklich allein zurück."

Schnell kletterten die Freunde die Leiter nach unten und machten sich auf den Rückweg. Mit ihren Handytaschenlampen erzeugten sie Licht, in welchem sie zumindest die naheliegende Umgebung sehen konnten.

Noch immer war die Stimmung im Wald merkwürdig. Als hätten die Tiere den Schock über den lauten Knall auch noch nicht verkraftet. Oder war die Situation schlimmer, als die Freunde annahmen?

„Seid ihr alle noch da?", fragte Fria, nur um sicherzugehen, dass sie nicht verrückt geworden war. Ihr war heute alles zu viel. Nach dem Schulstress und der Sorge um ihren Film lief sie nun durch den dunklen Wald und vermutete einen Mörder hinter jedem Baum.

„Ja, wir sind alle da und kampfbereit", versicherte Lilia.

Jasper schnaubte: „Definiere kampfbereit. Meiner Meinung nach haben wir nichts dabei, womit wir uns verteidigen könnten. Oder hast du ein Schwert in deinem Rucksack?"

„Jasper hör endlich auf damit, Fria zu verunsichern! Ich werde mich auf jeden Fall vor jemanden werfen, um sie zu beschützen. Somit bin ich meiner Definition nach kampfbereit. Was du machst, ist mir egal." Langsam wurde Lilia wütend. Sie verstand Späße, aber Fria ging es offensichtlich nicht gut und Jaspers Sprüche sorgten nicht dafür, dass sie sich entspannte.

Endlich akzeptierte ihr Freund den Wink, und gab klein bei. „Na gut. Ich würde mich auch den Feinden zum Fraß vorwerfen, um dich zu beschützen, Fria."

In der Dunkelheit konnte man es schwer sehen, doch Fria lächelte. „Danke."

„Wir müssten es auch gleich geschafft haben", beruhigte sie Benno weiter. „Hier haben wir Lani getroffen und in wenigen Minuten wird man die ersten Lichter der Häuser sehen."

„Denkt ihr, Lani geht es gut? Sie wurde noch immer nicht gefun ..." Jasper blieb das Wort im Halse stecken.

Die Freunde traten auf eine etwas größere Lichtung. Im Schein ihrer Taschenlampen nahmen sie einen schwarzen Umriss wahr.

Dieser hätte noch als Wildschwein durchgehen können, wenn er nicht so verdammt menschlich ausgesehen hätte.

„Hallo?", fragte Benno mit zittriger Stimme.
Keine Antwort. Es kam auch keine Bewegung in den vermeidlichen Körper.

„Denkt ihr ...", begann Lilia ihren Satz, doch brach dann ab. Sie konnte nicht aussprechen, was sie dachte und doch wusste jeder, was sie meinte.

Denkt ihr die Person ist tot?

„Ich gehe näher ran. Wartet hier." In mehreren kleinen Schritten näherte sich Jasper dem Körper. Daran, wie sich der Lichtkegel seiner Handytaschenlampe bewegte, sah man, dass auch er zitterte. Für Fria war es schön zu sehen, dass auch Jasper, wie tapfer und unbekümmert er auch tat, eigentlich ein kleiner Angsthase war.

„Hallo?", wiederholte er Bennos Frage und trat endlich nahe genug an den Körper heran, um ein Gesicht ausmachen zu können.

Und nicht nur das ...

Der Anblick des Mädchens verschlug ihm die Sprache.

„Jasper, was ist los?", fragte Benno seinen Freund, da dieser nicht berichtete, was er sah.

Mit zittrigen Knien drehte sich Jasper wieder zu seinen Freunden um. Die Dunkelheit schlug schwer auf seinen Magen. Im Schein der Taschenlampen standen Benno, Lilia und Fria dicht an dicht. Diese sahen Jaspers verstörten Gesichtsausdruck nicht, da sie hierfür zu weit weg waren, doch anhand seiner Stimme hörte man die Emotionen heraus.

Angst, Trauer, Wut, Irritation.

„Es ist Lani. Sie ... sie", er wollte die Worte nicht aussprechen, doch gleichzeitig wollte er seinen Freunden den Anblick des toten Mädchens ersparen. Und wenn er jetzt nichts sagen würde, würden sie näherkommen.

Also überwand er sich und berichtete schweren Herzens: „Lani wurde erschossen." 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt