Szene ④

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Fria saß an diesem Mittag in ihrem Zimmer und versuchte, sich auf die Kartenspiele mit ihren Brüdern zu konzentrieren.

Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Als sie gestern von Jim nach Hause gebracht worden war, war sie ihren Eltern in die Arme gefallen. Die beiden hatten vollkommen geschockt die Tür geöffnet und Fria liebevoll über die Arme gestreichelt, als sie angefangen hatte zu weinen.

Jim hatte schnell erklärt, was gerade im Wald passiert war, und war dann mit den restlichen Freunden weiter zu Benno gegangen.

Frias Eltern hatten sie die ganze Nacht nicht aus den Augen gelassen. Am Morgen waren Kai und Emil im Zimmer erschienen und hatten sich zu Fria ins Bett gekuschelt.

Die Siebzehnjährige hätte an diesem Morgen am liebsten nicht ihre Augen geöffnet. Doch leider hatte der Schlaf in ihren Augenlidern gekitzelt und sie hatte ihn sich wegstreichen müssen.

„Fria, du bist dran." Kai und Emil hatten der Reihe nach eine Karte abgelegt und sahen nun ihre Schwester an. Fria starrte müde zurück. „Tut mir leid." 

Sie gähnte und suchte eine passende Karte heraus, die sie zwischen anderen in ihrer Hand hielt.

Dann ließ sie sich nach hinten umfallen. Sie hatte bis eben im Schneidersitz auf dem Teppich gesessen, doch nun lag sie platt auf dem Boden.

„Fria! Geht es dir gut? Sollen wir Mama und Papa rufen?" Kai und Emil waren sofort aufgesprungen und zu ihrer Schwester gerannt.

„Nein, alles gut", antwortete Fria trocken. „Ich brauche nur kurz eine Pause."

Sie musste nur für ein paar Minuten die Augen schließen ...

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Na toll.
„Fria?" Tilo streckte seinen Kopf ins Zimmer und lächelte entschuldigend. Seine braunen Haare glänzten im leichten Licht. Fria hatte sich am Morgen nicht die Mühe gemacht, die leicht lichtdurchlässigen Vorhänge aufzuziehen, weshalb das Zimmer nur spärlich beleuchtet war.

„Was machst du hier Tilo?" Die junge Frau hatte sich wieder in eine sitzende Position begeben und tat hellwach. Sie konnte hier nicht wie ein sterbender Schwan herumliegen, während Tilo zu Besuch war. Wie sähe das denn aus?

Kai und Emil begrüßten ihren Freund mit einer Umarmung. Auch sie kannten sich schon ewig. Dann winkten sie zum Abschied und verließen das Zimmer.

„Sie sind ja immer noch niedlich!", sagte Tilo und betrat den Raum. Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich neben Fria. „Ich hab deine Brüder echt vermisst."

Fria fuhr sich über die Augen. Sie fühlten sich trocken an. Trocken wie eine Wüste.

„Ich leihe sie dir gerne mal aus."

„Echt? Das wäre cool. Vielleicht wollen sie ja auch mal eine Reitstunde auf Mala nehmen."

Fria gefiel diese Idee. Sie nickte. „Gerne. Aber jetzt sag, warum bist du hier?"

Sie wusste, dass Tilos Besuch kein Zufall war. Wenn er kam, wollte er etwas von ihr.

Unschuldig lächelnd stützte sich Tilo auf dem Boden ab. Er trug heute eine blaue Jeans, was sehr untypisch für ihn war. Beim Reiten sah Fria ihn immer in bequemeren Klamotten.

„Ich bin hier, um dir zu sagen, dass ich mich jetzt auf deinen Film konzentrieren kann. Die Englischarbeit ist geschrieben und somit bin ich mit der ersten Runde Klausuren durch."

Fria lächelte leicht. „Das ist schön. Leider glaube ich aber nicht, dass wir in der nächsten Zeit einen Film drehen können. Hast du mitbekommen, was gestern passiert ist?"

Fria merkte, wie sich die Mimik auf dem Gesicht ihres Freundes änderte. Das Lächeln verschwand. Nun sah Tilo ernst aus. „Ja. Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest."

„Schon gut. War nicht so schlimm."

„Oh nein, meine Liebe." Tilo lachte auf. „Das kaufe ich dir nicht ab. Du siehst aus, als hättest du gestern zu viele Horrorfilme geschaut. Deine Augenringe hängen bis zum Boden." 

„Wow, vielen Dank." Fria wusste, dass Tilo es nicht böse gemeint hatte, trotzdem war es nicht schön zu hören, dass man anscheinend super zerstört aussah.

„Dafür kannst du ja nichts. Und wenn du heute früh schlafen gehst, siehst du morgen schon wieder besser aus."

„Besser? Aber nicht gut?", neckte Fria ihren Freund.
Er verdrehte die Augen. „Doch, natürlich gut. Sehr gut sogar."

Unten hörte man, wie sich Kai und Emil mit ihrer Mutter anlegten. Durch die Wände konnte man jeden Piep verstehen. Anscheinend ging es darum, dass sie Tilo etwas zu trinken anbieten sollten.
„Danke, dass du gekommen bist", sagte Fria nach einer kurzen Pause. „Das habe ich jetzt gebraucht."

„Gerne. Auch wenn ich eigentlich nicht erfolgreich war. Du willst sicher nicht früher mit dem Film starten? Ich verstehe, wenn du Angst hast, aber vielleicht könnte dich dein Hobby ablenken? Auf dem Hof bist du sicher. Wenn es darauf ankommt, werden Mala und ich dich beschützen."

Fria lachte. „Das will ich sehen." Dann dachte sie darüber nach. „Wobei, besser doch nicht."

„Stimmt." Tilo erhob sich. „Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Oder vielleicht hast du schon ein Drehbuch, was ich mitnehmen und auswendig lernen kann?"

„Leider nein. So weit war ich noch nicht."

„Kein Problem. Lass dir alle Zeit der Welt. Und falls du über etwas reden möchtest, bin ich immer für dich da. Egal, ob es um den Film, deine Gefühle oder etwas ganz Anderes geht."

Fria nickte nur. Sie war zu gerührt, um zu reden. Diese Worte hatten ihr viel bedeutet. Den Tränen nahe verabschiedete sie sich von Tilo. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, lies sie den Tränen freien Lauf.

Sie wusste nicht, was letztendlich der Auslöser gewesen war. Vielleicht war es Tilos rührende Art, sich um sie zu kümmern. Oder die Gefühle von gestern Nacht waren wieder hochgekommen. All die Angst, die Trauer und der Schmerz.

Die Leiche von Hans Verhaag war wieder in Frias Kopf aufgetaucht. Mit aggressivem Kopfschütteln versuchte sie, die Erinnerung loszuwerden.

„Nein, nein, nein!", sagte sie sich immer wieder.

Fria würde noch lange brauchen, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Das Fass der Emotionen war bereits bei Maleas Tod zum Überlaufen gebracht worden, doch nun kochte es zusätzlich.

Gestern noch hatte sie gewusst, vor wem sie sich fernhalten sollte. Hans Verhaag hätte man sofort an seinem Aussehen erkannt.

Doch nun lief ein Mörder frei herum, welcher für sie nur eine farblose Silhouette war. Kein Name, kein Aussehen, kein Standort.

Unwissenheit hatte sich noch nie so beängstigend angefühlt.

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt