Lilia saß eine Stunde später in ihrem Zimmer und war am Schreiben. Ihre Familie hatte ihr das schönste Zimmer des Hauses geschenkt, worüber sie noch immer sehr dankbar war. Die Fensterfront lag in einem Erker, in welchem eine kleine Sitzbank eingelassen war. Lilia liebte den Platz. Hier saß sie immer, um zu lesen oder zu schreiben. Sobald sie bei einem Satz mal nicht weiterkam, oder ein Wort suchte, konnte sie den Blick in den Garten schweifen lassen und sich von den gesunden Apfelbäumen und dem kleinen Kräutergarten inspirieren lassen.
Auch jetzt hatte Lilia an ihrem Schreibplatz Platz genommen. Die Knie angewinkelt, den Laptop darauf abgestellt, saß sie in ihrer Ecke und war in eine ganz andere Welt versunken. Gerade kämpfte die Hauptperson in ihrem Manuskript das zweite Mal gegen den Antagonisten. In einem schweren Schlagabtausch floss viel Blut und Lilia genoss das geschriebene Leiden.
Sie lächelte. Nur jemand, der selbst schrieb, konnte es verstehen, wenn man auf den Tod einer Person hin fieberte, es liebte zu Morden, oder Menschen seelischen Schmerz zuzufügen.Lilia war so vertieft in ihr Buch, dass sie die Klingel nicht hörte. Auch als der Besuch hereingelassen wurde, Lilias Großmutter begrüßte, die Treppe hochging und die Tür öffnete, nahm Lilia es nicht wahr.
Erst, als Benno ihre Schulter packte und: „Nicht erschrecken!" schrie, fuhr sie ruckartig hoch. „Oh mein Gott!" Schwer atmend stellte Lilia erst einmal ihren Laptop beiseite.
Sie musste ihr wichtigstes Eigentum vor möglichen Unfällen schützen.
Dann stand sie auf und schlug Benno gegen den Arm. „Wie konntest du nur!"
Dieser lachte und lachte und konnte nicht aufhören. „Das ... das sah ja so ... lustig aus!" Benno schüttelte sich und musste sich auf Lilias Schreibtischstuhl niederlassen, damit er nicht einfach so vor Lachen umkippte.
„Das war überhaupt nicht lustig! Du hättest meinen Laptop verletzen können!" Langsam stieg Lilia in das Lachen ein, trotzdem versuchte sie noch, ihrem Freund ein schlechtes Gewissen zu machen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war tadelnd. Sie umarmte ihren Laptop und streichelte ihn.
„Tut mir ... leid", stieß Benno noch immer atemlos hervor. Seinen Gesichtsausdruck nach zur urteilen, tat es ihm aber ganz und gar nicht leid. Noch lange würde er sich an Lilias Zusammenzucken und den geschockten Gesichtsausdruck erinnern können.
„Warum bist du überhaupt hier? Musst du nicht noch was für die Schule machen? In Deutsch haben wir ganz schön viel aufbekommen."
Benno verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich denke, du kannst mir keine Vorwürfe machen." Er blickte auf das noch immer geöffnete Dokument auf Lilias Laptop. „Das Schwert des Schicksals scheint auch keine Aufgabe unseres Deutschlehrers zu sein."
Betreten sah Lilia zu Boden. Er hatte sie erwischt. Natürlich hatte auch sie sich noch nicht mit den Deutschaufgaben beschäftigt. „Ich wollte gleich anfangen", antwortete sie kleinlaut.
„Gut, dann können wir es ja zusammen machen." Benno erhob sich vom Stuhl und zog seine Deutschunterlagen aus dem Rucksack, den er bis eben auf dem Rücken getragen hatte.
„Och nein. Ich habe keine Lust." Lilia stöhnte demonstrativ.„Aber wir müssen das bis Morgen fertig haben. Sonst bekommen wir Ärger." Benno versuchte, sich in dem Chaos, was auf Lilias Schreibtisch herrschte, einen Überblick zu verschaffen. Eigentlich hatte er seinen Ordner und die Lektüre dort ablegen wollen. „Ich lese dir jetzt die Szene aus Faust vor, die wir analysieren sollen, und du musst mir sagen, was du davon hältst."
„Ich bin aber noch nicht so weit, wie wir eigentlich gelesen haben sollten. Du kannst mich doch nicht spoilern." Lilia schaltete ihren Laptop aus und holte den angesprochenen Klassiker aus ihrem Bücherregal. Normalerweise liebte sie das Lesen, aber wenn es für die Schule war, waren Bücher plötzlich doch nicht mehr so interessant.
Sie hielt Benno ihr Exemplar hin, bei dem das Lesezeichen auf Seite zwanzig steckte.
Benno schien ebenfalls nicht allzu motiviert. Schon gab er auf, mit Lilia die Szene zu analysieren. „Also gut, dann nicht. Dann werde ich das wohl allein machen müssen."
„Tut mir leid." Ein schlechtes Gewissen hatte Lilia jetzt schon, immerhin war Benno extra zu ihr gekommen. „Wenn du willst, können wir uns heute Abend im Baumhaus treffen. Bis dahin werde ich das Buch weiterlesen."
Benno strahlte. „Gerne."
Gemeinsam sahen sie einige Minuten aus dem Fenster und beobachteten eine von Lilias Katzen dabei, wie sie von ihrem liebsten Apfelbaum kletterte. Benno hielt die Stille nicht aus. Er hasste es, wenn es plötzlich kein Gesprächsthema mehr gab. Natürlich wusste er, dass es bei Lilia anders war. Für sie hatte Stille etwas Beruhigendes und Schönes an sich und sie war nicht bedrückend, sondern eine Chance, sich von all den störenden, lauten Geräuschen in der Welt zu erholen.
Benno versuchte, seine Energie in seine Füße zu lenken. Tippelnd saß er auf dem Schreibtischstuhl und suchte mit den Augen nach einer Beschäftigung.
Er fand sie nach kurzer Zeit nicht und so begann er dann doch damit, einfach irgendetwas zu erzählen.
„Weißt du eigentlich schon, warum die Schule geschlossen wurde?"
Lilia schüttelte den Kopf.
„Ich habe Jasper getroffen und der hat mit seinem Vater geredet. Angeblich hat die Polizei eine Nachricht erhalten in der steht, dass Lani in der Schule ist."
Lilia machte große Augen. „Wirklich? Das wäre prima! Dann hätte man sie endlich gefunden."
„Ja", Benno nickte. „Das würde aber bedeuten, dass der Fall nicht mit diesen beiden Mädchen zusammenhängt, von denen du uns erzählt hast. Denn dann ist Lani nicht entführt worden und es gibt eine logische Erklärung für ihr Verschwinden."
Lilia fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Haare. „Ich fände nicht schlimm, wenn Lani nichts mit den Entführungen zu tun hat. Dann hätte sich immerhin ein Rätsel gelöst."
Kurz wanderten ihre Gedanken wieder zu dem Gespräch mit Dorothea und dem Vermissten-Plakat, auf dem eine Telefonnummer abgedruckt war. Sie spielte mit dem Gedanken, Benno davon zu erzählen, verwarf ihn dann aber wieder. Es würde ja auch nichts ändern.
Doch Benno schien ihre Gedanken zu lesen. „Hast du dieses Plakat bemerkt, was an der Info-Säule in der Nähe eures Hauses hängt."
Lilia seufzte. „Ja."
„Und?"
„Was und?"
„Wie findest du es?"
„Merkwürdig", gab sie zu. „Da steht weder Lanis Nachname drauf, noch weiß man, wen man mit der Telefonnummer erreichen kann."
Benno verstand ihre Bedenken. Trotzdem antwortete er: „Ich denke mal, es werden ihre Eltern sein."
„Vermutlich. Aber von denen wollte Lani uns ja nichts erzählen."
„Sollen wir da anrufen?" Benno lehnte sich gespannt auf dem Stuhl nach vorne. „Ich weiß, wir haben Lani nicht gefunden, aber dann wüssten wir wenigstens, mit wem wir es zu tun haben."
Lilia überlegte: „Dann sollten wir aber alle dabei sein. Jasper und Fria haben noch keine Ahnung davon und wenn wir ihnen im Nachhinein von unserer Aktion berichten, sind sie bestimmt enttäuscht."
Stimmt." Benno zückte sein Handy. „Dann werde ich sie jetzt einfach für heute Abend auch ins Baumhaus einladen."
„Wie sollen wir uns dann auf Deutsch konzentrieren?"
„Ich schreibe ihnen, dass wir uns um sieben Uhr treffen. Wir können uns ja schon um halb sechs ins Baumhaus aufmachen, dann haben wir hoffentlich genug Zeit, die Deutschaufgaben zu erledigen."
„Na gut. Und dafür lässt du mich jetzt in Ruhe schreiben?" Sehnsüchtig blickte Lilia auf ihren Laptop.
„Klar. Viel Spaß noch mit das Schwert des Schicksals." Mit einem Säuseln in der Stimme stand Benno auf. „Bis nachher."
„Bis nachher." Lilia strahlte. Zum einen freute sie sich auf das Treffen, zum anderen zog ihr Laptop sie magisch an. Es galt einen Bösewicht zu töten!
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Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)
Gizem / GerilimWas flüstern die Wälder? Bisher konnten sich die Freunde Jasper, Fria, Lilia und Benno immer aufeinander verlassen. Das alte Baumhaus, was seit ihren Kindertagen in den träumenden Wäldern steht, ist ihr Zufluchtsort. Doch eines Tages verschwindet i...