Szene ②

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Lilia hatte sich am nächsten Tag in einen dicken Mantel gewickelt und war auf dem Weg ins Krankenhaus. Ihr graute es vor dem dortigen Eintreffen. Jedes Mal, wenn sie an diesen Ort dachte, erinnerte sie sich an ihren letzten Besuch. Es war Maleas Todestag gewesen. Möglicherweise eine der letzten Minuten, in denen sie noch geatmet hatte.

Und vielleicht hätte Lilia die Entführung verhindern können, wäre sie eine halbe Stunde eher ins Krankenhaus gekommen.

Als sie durch die großen Schiebetüren in den Eingangsbereich trat, musste sie einmal tief Luft holen. Ihre Reaktion erinnerte sie an ihren Freund Jasper. Dieser hatte ihr vor ein paar Jahren von einer ähnlichen Abneigung gegenüber Krankenhäusern erzählt. Seine Mutter war hier gestorben und mit ihr ein Teil von ihm.

Bis zum heutigen Tag hätte es Lilia jedoch nicht für möglich gehalten selbst von diesem Problem betroffen zu sein. Für sie waren Krankenhäuser zwar nie ein Wohlfühlort gewesen, doch sie hatte ihren Nutzen sehr geschätzt. Hier wurde dem Leben eine zweite Chance gegeben. Es wurde gekämpft, bis zur letzten, alles entscheidenden Sekunde.

Nun waren diese positiven Attribute aus ihren Gedankengängen verschwunden. Lilia wurde hier mit jedem Schritt an Maleas Tod erinnert.

„Kann ich dir helfen?", fragte eine Stimme.

Die junge Autorin drehte sich um. Sie war durch den Eingangsbereich gegangen, wie ein Tourist, der eine Kirche bestaunte. Immer wieder hatte sie sich zu allen Seiten umgesehen und nach etwas von Belangen gesucht. Den Rücken hatte sie der Rezeption zugewandt.

Nun sah sie jedoch in die Richtung der Stimme und erkannte zu ihrem Erstaunen ein bekanntes Gesicht.

„Yasmin? Was machst du denn hier?"

Die junge Frau richtete eingeschnappt ihre Brille und sagte dann: „Ich arbeite hier."

Lilias Herz machte einen freudigen Hüpfer. Auch wenn sie den schnippischen Unterton in Yasmins Stimme gehört hatte, vereinfachte ihre Anwesenheit die Lage. Lilia kannte das Mädchen relativ gut, da sie einmal ein Chemie-Projekt zusammen machen mussten und die Bekanntschaft war sicher von Vorteilen. Immerhin musste sie gleich ein paar unangenehme Fragen stellen.

„Kann ich dich etwas fragen?"

„Klar, dafür bin ich hier." Wieder richtete Yasmin ihre Brille. Sie schien ihr nicht richtig zu passen.

„Weißt du, wer hier am Freitag vor zwei Wochen Dienst hatte?", fragte Lilia gespannt.

Doch statt eine Antwort zu geben, richtete sich Yasmins Blick wieder auf den Bildschirm vor ihr.

„Yasmin?"

„Ich sehe nach, Sekunde." Doch auch Sekunden später passierte nichts. Lilia wollte nicht abermals nachfragen, doch langsam bekam sie Angst. Yasmin tippte nicht einmal auf der Maus herum. Nach ein paar Klicks war ihre Hand zum Stillstand gekommen. Sie starrte nur auf den Bildschirm.

Lilia fing an, nervös mit dem Fuß zu wippen. Was sah sich Yasmin da an? War es etwas Beunruhigendes oder doch nur der Dienstplan?

Gerade setzte sie zu einem neuen Versuch an, zu erfahren, was los war, da klingelte Yasmins Handy. Lilia erstarrte mitten im gesprochenen Satz. „Ich will nicht unhöflich ..."

„Einen Moment. Das ist Erik." Das Mädchen zog ihr Telefon aus der Dienstkleidung und ging damit vor die Tür.

Lilia war einige Sekunden lang zu perplex, um sich zu bewegen. Was war das für eine merkwürdige Begegnung gewesen? Doch dann dämmerte ihr, was zu tun war. Sie musste schnell handeln.

Lilia sah sich zu beiden Seiten um. Im Eingangsbereich saß ein altes Ehepaar, aber von Krankenhauspersonal war nichts zu sehen. Also drehte sie den Computerbildschirm um 180 Grad zu sich.

Lilias Herz pochte wild. War sie verrückt geworden? Wenn sie jemand sah, konnte das unangenehme Konsequenzen mit sich tragen. Sie war doch sonst keine Rebellin. Ganz im Gegenteil. Schon bei kleinsten Regelverstößen begannen ihre Knie zu zittern.

Doch Lilias Gedanken versuchten sich nicht mit den Gewissensbissen zu beschäftigen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf die neuen Informationen vor sich.

Yasmin hatte eben tatsächlich den Dienstplan geöffnet, doch in der besagten Stunde vor zwei Wochen war das Feld der Tabelle leer. Also hatte Jaspers Vater seinem Sohn die Wahrheit erzählt. Auch die Polizei musste sich mit dieser Information zufriedengeben.

Enttäuscht schob Lilia den Screen zurück, da kam Yasmin auch schon wieder. „Tut mir echt leid wegen der Unterbrechung. Erik wollte wissen, was er uns zu Essen bestellen soll. Was war nochmal deine Frage?"

„Wer Dienst an der Rezeption hatte als Malea verschwunden ist."

Yasmin verkündete nun endlich doch: „Das steht hier leider nicht."

Ach ne. Lilia seufzte trotzdem, als wäre sie enttäuscht, um sich nichts anmerken zu lassen. Yasmin konnte ja nicht wissen, dass sie sich diese Information eben bereits selbst verschafft hatte.

„Trotzdem danke. Dann werde ich wohl woanders weiter suchen ..." Doch während sich Lilia umdrehte, entdeckte sie die Kamera, die in einer Ecke weit oben über ihren Köpfen platziert war. Sie filmte die Rezeption und den gesamten Bereich darum herum.

„Was ist mit der Kamera? Warum konnte die Person darüber nicht identifiziert werden?", fragte sie, ohne wirklich darüber nachzudenken, was das für sie bedeutete. Immerhin war ihre Aktion eben auch gefilmt worden.

„Die Polizei hat sich das Beweismaterial bereits angesehen. Zum Zeitpunkt der Entführung sind alle Kameras, auf denen man gesehen wird, wenn man in das Zimmer will, welches Malea belegt hatte, ausgeschaltet. Hier hat ein Profi gearbeitet."

„Mist." Dieses Mal war Lilias Seufzen echt. Auch wenn sie nicht vermutet hatte, besser als die Polizei zu arbeiten, hätte sie sich über unverhoffte Antworten echt gefreut. Doch nun musste sie mit leeren Händen nach Hause gehen.

Yasmin spürte ihre Enttäuschung wohl auch, denn sie schob ihre Brille nach oben und sagte: „Tut mir echt leid. Falls doch noch Informationen auftauchen, melde ich mich bei dir." 

„Das wäre super. Dann viel Spaß beim Abendessen."

„Danke. Erik müsste gleich da sein."

„Was gibt es denn?"

„Pizza." 

„Lecker." Lilia war neidisch. Ihr Magen knurrte schon seit Stunden, doch vor lauter Angst vor ihrem Besuch im Krankenhaus hatte sie heute Mittag nichts essen können. Jetzt sehnte sie sich nach einer Pizza.

Vielleicht sollte sie sich auch eine bestellen. Immerhin würde ihre Familie heute Abend nichts kochen.

„Bis dann." Plötzlich von neuem Elan gepackt, verabschiedete sie sich von Yasmin und verließ endlich das Krankenhaus.

Vollkommen erleichtert rief sie wirklich bei der nächstgelegenen Pizzeria an und bestellte sich eine große Pizza Margherita. Der Abend war so zumindest teilweise gerettet. 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt