Szene ②

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Der Montagmorgen zog graue Fäden über den Horizont. Die Freunde saßen in der Schule und hörten lieber dem Gewitter draußen zu als den Lehrkräften in den Räumen.

Donnergrollen halte durch den Flur und die Pause wurde regenbedingt für alle nach drinnen verschoben.

Jasper verabschiedete sich nur widerwillig nach dem Klingeln von seinen Freunden. Er war im Englischkurs von ihnen allen getrennt.

Auf seinem Platz ganz vorne neben dem Fenster konnte er gut weiterhin das Wetter beobachten. Lange Blitze zogen sich über den Himmel und der Regen schlug laut gegen das Fenster.

„Richtiges Scheißwetter", murmelte er vor sich hin.

Seine Lehrerin kam herein und verteilte Arbeitsblätter. Heute sollten sie englische Gedichte interpretieren.

Jasper verdrehte die Augen. Gedichte fand er schon in Deutsch langweilig. Auch wenn er nach der Analyse immer die Grundaussage verstand, war es ihm die Mühe nie wert. Lilia würde ihm da sicher zustimmen.

Der Regen verdichtete sich abermals während Jasper las und er musste zugeben, dass das Wetter dem Gedicht einen gewissen Reiz gab. Es handelte sich um den Text „Because I could not stop for Death" von Emily Dickinson.


Because I could not stop for Death –

He kindly stopped for me –

The Carriage held but just Ourselves –

And Immortality.

We slowly drove – He knew no haste

And I had put away

My labor and my leisure too,

For His Civility –

We passed the School, where Children strove

At Recess – in the Ring –

We passed the Fields of Gazing Grain –

We passed the Setting Sun –

Or rather – He passed Us –

The Dews drew quivering and Chill –

For only Gossamer, my Gown –

My Tippet – only Tulle –

We paused before a House that seemed

A Swelling of the Ground –

The Roof was scarcely visible –

The Cornice – in the Ground –

Since then – 'tis Centuries – and yet

Feels shorter than the Day

I first surmised the Horses' Heads

Were toward Eternity –


„Was möchte uns die Autorin durch diesen Text vermitteln?", fragte die Lehrerin, Frau Debsh, nur Sekunden, nachdem Jasper seine Augen von dem Blatt Papier gehoben hatte. Natürlich sprach sie auf Englisch, jedoch mit einem sehr schlechten, deutschen Akzent.

Die Arme von Erik und Yasmin flogen sofort in die Luft und auch Jasper hob seine Hand. Seine guten Noten kamen nicht von sonst wo, er arbeitete hart für sie.

Trotzdem wählte seine Lehrerin nicht ihn aus, sondern eine Mitschülerin, die sich gar nicht gemeldet hatte.

„Paula, was denkst du?"
Das angesprochene Mädchen schreckte erschrocken auf und stotterte bei ihrer Antwort. Jasper sah, wie sie ihr Handy langsam weiter unter den Tisch schob.

„Ja ... naja ... es geht ... auf jeden Fall ... um den Tod."

Die Lehrerin unterdrückte ein Lachen. „Danke für diesen Beitrag. Hat noch jemand etwas hinzuzufügen?"

Noch immer waren Jaspers, Eriks und Yasmins Hände in der Luft.

„Erik?"

Fast bildete Jasper es sich ein, dass Erik zufrieden lächelte. Es schien immer so, als würde er sich besonders freuen, wenn Jasper nicht zu Wort kommen durfte.

„Das Lyrische-Ich wird vom Tod eingeladen, eine Reise zu unternehmen. Sie fahren in einer Kutsche an verschiedenen Stationen des Lebens vorbei und enden beim Grab des Lyrischen-Ichs. Es wirkt so, als sei die Person bereits gestorben. Sicher soll uns das Gedicht zeigen, wie kurz das Leben doch ist und wie lang im Gegenzug die Unsterblichkeit im Tod."

„Sehr gut Erik, das war korrekt. Hat noch jemand etwas hinzuzufügen?"

Jaspers und Yasmines Hände wanderten nach unten. Erik hatte ihnen das Wichtigste vorweggenommen.

Frau Debsh klatschte einmal in die Hände. „Das war für den Anfang schon sehr gut. Wir werden nun so vorgehen, dass wir uns in Gruppen aufteilen, und jede Gruppe bekommt ein anderes Gedicht. Am Ende der Stunde werdet ihr es den anderen Gruppen vorstellen."

Jasper bewegte seinen Stuhl nur mürrisch zu seiner zugeteilten Gruppe. Er war kein Freund von Teamwork, zumindest wenn es um unmotivierte Klassenkameraden ging. Die Leute vom Computerclub konnte er hier ausschließen.

Das zweite Gedicht ging ebenfalls um den Tod und Jasper dachte an die letzten Wochen zurück. Schon zwei Mal hatte er dem Tod nun in die Augen blicken müssen. Erst hatten seine Freunde und er die kleine Lani gefunden, dass Malea.
Deshalb hatte er wirklich keine Lust darauf, jetzt noch über das Thema zu lesen.

Der Platz in seinem Herzen, der Malea gewidmet war, würde nie vollständig heilen. Da half ihm der Gedanke an ein Weiterleben ihrer Seele auch nicht.

Frühstens, wenn er selbst starb, würde er wieder mit ihr in Kontakt kommen. Und das dauerte hoffentlich noch einige Jahrzehnte.

Seine Lehrerin müsste eigentlich über Malea Bescheid wissen. Jeder kannte die Geschichte. Aber gut, vielleicht standen die Gedichte im Lehrplan und das war Frau Debsh wichtiger als Jaspers seelische Gesundheit.

Als seine Gruppe am Ende der Stunde ihre Analyse vortrug, strahlte Frau Debsh wieder begeistert. „Das war eine ganz tolle Arbeit. Wie ihr richtig erkannt habt, wird das Sterben sehr positiv dargestellt. Der Text zeigt uns, dass das Leben nach dem Tod auch schöne Seiten haben kann. Wir wissen nicht, was passiert. Vielleicht wird uns das Paradies geöffnet. Für immer Frieden. Und auch das Ableben ist für alle Beteiligten ein Tapetenwechsel. Der Verstorbene hinterlässt zwar ein Loch, aber wenn er alles richtig gemacht hat, auch etwas Unbezahlbares. Unsterblichkeit."

In dieser Sekunde klingelte es zur Pause und die Schüler erhoben sich. Jasper blieb kerzengrade auf seinem Stuhl sitzen. Das, was er da gerade gehört hatte, war absolut absurd. Seine Lehrerin wollte ihm verklickern, dass der Tod etwas Gutes war? Da hatte sie wohl wirklich vergessen, was mit Malea passiert war.

Jasper würde darin nie etwas Positives finden können. Es war ungerecht, abartig und ekelhaft, dass ihr eigener Vater sie umgebracht hatte.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Frau Debsh war ab sofort bei ihm unten durch. Was sie da gerade abgezogen hatte, war unverzeihlich. Würden ihm seine Noten nicht so stark am Herz liegen, würde er die Englischstunde ab nächste Woche auf jeden Fall schwänzen.

Jasper stand auf, griff nach seiner Schultasche und verließ den Raum. Bevor er um die Ecke bog, hörte er Frau Debsh noch sagen: „Yasmin? Erik? Bleibt ihr bitte noch kurz hier?"

Jasper schnaubte. Oh super. Jetzt unterhielt sich die Psycho-Lehrerin auch noch mit den Schülern, die laut seinen Freunden etwas zu verheimlichen hatten.

„Was ist los Jasper?", fragte Benno kurze Zeit später. Sie waren sich im Schulflur über den Weg gelaufen. Besser gesagt, war Jasper in Benno hineingelaufen.

„Heute ist einfach ein Scheißtag."

„Irgendwelche Erklärungen?" Benno verstand seinen Freund nicht. Was war Jasper passiert? Warum war er noch schlechter drauf als sonst?
„Vielleicht nachher. Jetzt bin ich zu wütend."

Jasper stürmte in den nächsten Klassenraum und ließ Benno verdutzt im Flur stehen. „Dann halt nicht."

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt