Szene ⑤

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Jasper war müde. Unendlich müde. Es war ein langer Tag gewesen, und er wollte endlich schlafen gehen.

Gerade hatte er sein Handy zur Seite gelegt, um sich noch einmal seine Lernzettel für die Biologie-HÜ morgen anzusehen. Dabei würden ihn die nicht aufhörenden Nachrichten seiner Freunde nur nerven. Gerade diskutierten sie in der WhatsApp-Gruppe über das Mädchen, was Benno heute kennengelernt hatte. Sie hieß Suzanne und war neu in der Stadt. Jasper war jetzt jedoch guten Gewissens aus dem Gespräch ausgestiegen. Während sich Fria sofort Shipping-Namen für die beiden ausdachte, verlangte Lilia, sie auf Abstand zu halten. Immerhin wusste Benno noch nichts über sie. 

Jasper fand, dass Lilia eindeutig zu viele Bücher gelesen hatte, in denen die Hauptperson hintergangen wurde. An sich musste Suzanne doch keine Bedrohung sein, nur weil sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt aufgetaucht war.

Müde legte Jasper die Lernzettel aus der Hand. Er wollte nicht mehr. Über den Aufbau der Zelle wusste er bereits seit fünf Jahren Bescheid und eigentlich hätte er für diesen Test nicht lernen müssen. Natürlich hatte er es trotzdem getan. Immerhin könnte ihm Zusatzwissen Pluspunkte einbringen.

„Es reicht!", sagte er jetzt aber entschieden. Er hatte genug gelernt. 15 Punkte müssten drin sein.

Gähnend ging er ins Bad und putzte seine Zähne. Aus dem Spiegel blickte ihn eine ziemlich erschöpfte Version von ihm selbst entgegen. Der Tag hatte ordentlich an seinen Nerven gezerrt. Noch immer hatte niemand Lani gefunden.

Jaspers blonden Haare standen wirr von seinem Kopf ab, unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Augenringe ab und der Star Wars Schlafanzug, den Lilia ihm mal zum Geburtstag geschenkt hatte, war auch nicht mehr der neuste.

Neben den gestrigen Ereignissen schwirrten ihm nun aber auch ganz andere Gedanken durch den Kopf. Dass Benno plötzlich jemanden gefunden hatte, zu dem er sich romantisch hingezogen fühlte, verunsicherte den jungen Wissenschaftler. 

Fria war ebenfalls bereits verliebt gewesen und bei Lilia konnte man sich nie sicher sein. Wäre in der Hinsicht etwas passiert, hätte sie davon sowieso nichts erzählt.

Eigentlich fühlte sich Jasper gut in seiner Haut, doch wenn er darüber nachdachte, sich bald eine Freundin suchen zu müssen, wie es die Gesellschaft von ihm forderte, wurde ihm schlecht. Er war glücklich allein – er wollte keine Beziehung.

Noch hatte er niemandem von seinen Gedanken berichtet, er wollte sich erst ganz sicher sein, bevor er falsche Wahrheiten verbreitete.

Jasper schüttelte sich. Er musste das Thema wenigstens für diese Nacht vergessen. Sonst würde er wieder schlaflos da liegen. Dabei schrieb er doch morgen eine Bio-HÜ.

Gerade wollte Jasper nach seiner Bürste greifen, um zumindest seine Haare zu ordnen, da klingelte es an der Tür. Wer könnte das um diese Uhrzeit sein? Es war bereits halb elf in der Nacht. Normale Menschen schliefen schon.

Neugierig öffnete Jasper erst die Badtür und schlich dann in den Flur, der durch die Treppe mit dem Eingangsbereich des Hauses unten verbunden war. Sein Vater öffnete gerade die Tür. Dass Jasper ebenfalls im Flur stand, hatte er nicht bemerkt.

Vor dem Haus stand Maleas Mutter Dorothea. Die roten Haare steckten unter einer dunklen Kapuze. Anscheinend hatte es angefangen zu regnen. Doch was hatte Dorothea hier zu suchen? Jetzt, um diese Uhrzeit?

Natürlich kannte Jaspers Vater die Mutter von einer der besten Freundinnen seines Sohnes, doch wirklich viel hatten sie nicht miteinander zu tun.

„Dorothea?" Jim verstand den späten Besuch wohl auch nicht.

„Hi, ich ..." Unsicher sah die Frau hin und her, als würde sie von jemandem verfolgt werden. Doch dann seufzte sie und trat ein. „Ich muss mit dir reden."

Sie nahm die Kapuze ab und unter ihren Füßen bildete sich eine kleine Pfütze. Jim schloss die Tür hinter ihr und deutete in Richtung Wohnzimmer. „Natürlich, komm rein. Worum geht es denn?"

Jasper hoffte inständig, dass sie nicht ins Wohnzimmer gehen würden. In dem alten Haus war der Boden des zweiten Stocks, sowie die Treppe aus Holz, sodass jede Berührung mit dem Material einen Ton von sich gab. Jasper würde den beiden nicht folgen können, ohne, dass sie es bemerkten.

Eigentlich war sein Vater kein Mensch, der Geheimnisse vor ihm hatte. Wenn Freunde von ihm zu Besuch kamen, durfte sich Jasper dazusetzen. Doch nun glaubte er, dass sein Vater ihn nicht dabeihaben wollte. So aufgewühlt, wie Dorothea war, musste ihr Besuch ernste Absichten haben.

Unschlüssig stand Jasper einige Minuten auf der Treppe herum. Natürlich hatte sein Vater Dorothea trotz seiner Gebete ins Wohnzimmer geführt und die Tür hinter ihnen geschlossen. Er wusste, dass er sie in Ruhe lassen sollte. Doch seine Neugierde war zu groß.

Langsam setzte Jasper einen Fuß vor den anderen. Immer wieder machte er kleine Pausen, um sich zu vergewissern, dass keiner das leise Knarzen der Stufen bemerkte. Denn natürlich hörte man jeden seiner Schritte.

Als Jasper endlich am Ende der Treppe angelangt war, atmete er erleichtert auf. Auf dem Kachelboden, welcher im Untergeschoss des Hauses überall gelegt war, würde man seine Schritte nicht mehr hören. Denn obwohl es Sommer war, trug Jasper Socken zum Schlafengehen. Barfuß hätte man vielleicht noch immer ein leises Tapsen vernommen, doch mit Socken hörte man rein gar nichts.

Pah, und Fria hat mich immer für meine Schlafsocken ausgelacht, dachte Jasper tadelnd.

In wenigen Schritten war er an der Tür. Selbst sein Atem kam ihm laut vor, als er versuchte, dem Gespräch zu lauschen.

„Bist du dir auch ganz sicher?" Jim Wittigs Tonfall wirkte besorgt. So aufgebracht hatte Jasper seinen Vater lange nicht mehr erlebt.

Jim schien Dorotheas vorangegangener Erzählung nicht zu glauben.

Doch diese bekräftigte ihre Aussage nochmals. „Ich bin mir sicher. Ich habe meine Tochter in meinem Garten stehen sehen. Sie stand genau unter dem Rosenbogen."

Jasper brauchte einige Sekunden, bevor er die Information verarbeiten konnte. Dorothea hatte ... Was? Sie hatte ihre Tochter gesehen? Malea hatte in ihrem Garten gestanden? Aber seine Freundin war doch im Krankenhaus. Sie lag im Koma und keiner wusste, wer dafür verantwortlich war. Jasper hatte es bereits mehrfach mitansehen müssen. Er war sich sicher, dass Malea nicht einfach aufstehen und zu ihrer Mutter laufen konnte.
Oder? 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt